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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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den Schmerz, den sie seit Jahren unter einer schützenden Schicht verbarg, einer Verkleidung. Und im Unterholz der Vergangenheit entdeckte Nancy eine Schlange, die sich zwischen einen Mann und eine Frau schob. Über die Jahre hinweg hörte sie die gezischten Worte, und es war ihre Stimme. Sie stand allein da, sie war die Schuldige.
    »Aber ich dachte, sie wäre tot!«, wiederholte ihre Mutter heftig. »Du nicht?«
    Nancy suchte nach einer Erwiderung – die Frau auf dem Boden, das verängstigte Kind …
    »Doch. Natürlich.«
    Mary nahm den Brief und las ihn laut vor: Er enthielt die Mitteilung, dass ihr Bruder gestorben war. Ein friedlicher Tod im Kreis von Frau und Kindern …
    »Frau!«, rief Louis. »Kinder?«
    »Henry wurde nach buddhistischem Ritus begraben, die gesamte Zeremonie entsprach einer traditionellen japanischen Beerdigung, so wie er es sich gewünscht hatte. Bei unseren Begräbnissen gilt es als schicklich, wenn laut geklagt wird, wofür manchmal eigens Leute bezahlt werden. Das war bei Henrys Begräbnis nicht notwendig, weil alle ihn liebten und um ihn weinten. In diesem Teil Japans, in Kyushu, gibt es die Tradition, einen Stein, der ›Kissenstein‹ genannt wird, auf den mit frischer Erde bedeckten Sarg zu legen. Ich habe für Sie, die hinterbliebene Schwester, einen Stein daraufgelegt.«
    Es stand noch mehr da, eine liebevolle Beschreibung von Henrys Erfolgen als Journalist, der über das Land schrieb, das er zu seiner zweiten Heimat erkoren hatte. Seine Schwester wisse sicherlich, wie sehr er sich bemüht habe, in diesen schwierigen Zeiten zu einem besseren Verständnis zwischen seinen beiden Heimatländern beizutragen. Sie lege eine Fotografie bei …
    »Was für eine Fotografie?«, rief Mary. »Da ist überhaupt keine Fotografie.«
    »Sieh doch noch mal in den Umschlag«, schlug Louis vor.
    In dem Umschlag lag ein kleines Foto, die Aufnahme einer Familie: Henry, seine Frau und drei kleine, wunderhübsche Mädchen.
    »Seine Frau ist Japanerin«, flüsterte Mary in die Stille hinein.
    »Er trägt japanische Kleidung!«, sagte Louis. »Wenn du mich fragst, dann sieht er sogar japanisch aus.«
    »Er sieht glücklich aus«, stellte Nancy fest.
    Mary betrachtete das eckige rote Siegel, die Unterschrift. »Cho-Cho. Du sagst, das bedeutet Schmetterling.«
    Dann fügte sie hinzu: »Joey muss es erfahren.«
    Muss er? Muss er das wirklich? Nancy überlegte etwas anderes: Sie würde den Brief einfach zerreißen und in den Ofen stecken, und das Leben würde wie gewohnt weitergehen. Fertig, aus. Joey würde so leben wie bisher, ein amerikanischer Junge in Amerika, glücklich. Da waren die Albträume, sie wusste von den Albträumen, aus denen er schreiend erwachte und dann unzusammenhängende Worte stotterte. Aber sie kamen inzwischen nur noch in unregelmäßigen Abständen, und er ließ sich schnell wieder beruhigen, wenn sie ihm über die blonden Locken strich, die sie so sehr an die von Ben erinnerten. Auch sie hatte Albträume, aber in ihren kamen Wasser und Schlamm und Ertrinken vor, und wenn sie daraus aufschreckte, rang sie immer nach Luft.
    »Wer soll es ihm sagen?«, fragte Mary.
    Aus dem Flur hörten sie Joeys Stimme. »Schon in Ordnung. Ich habe alles mitbekommen.«
    Nancy wirbelte herum. Er stand mit seinen Schulbüchern unterm Arm in der Tür und nickte langsam, als lausche er unausgesprochenen Worten, die Miene ausdruckslos. Dann wandte er sich ab und ging die Treppe hinauf.
    »Das Haus ist zu klein«, brummte Louis. »Man ist einfach keine Minute ungestört.«
    Und Mary sagte besorgt: »Das hätte nicht passieren dürfen, der Junge hätte darauf vorbereitet werden müssen.«
    Nancy war bereits halb die Treppe hinauf. Das Haus war wirklich zu klein für drei Erwachsene und einen heranwachsenden Jungen, aber was blieb ihnen anderes übrig, wenn sie doch den ganzen Tag in der Arbeit war und der Junge nach der Schule von Mary und Louis versorgt werden musste? Ihr winziges Zimmer platzte aus allen Nähten, aber immerhin hatte sie einen Ort, an den sie sich vor den ständigen Forderungen ihrer Eltern und ihres Kindes zurückziehen und wieder zu sich kommen konnte. Und Joey hatte hier wenigstens ein Zimmer mit einer richtigen Tür statt eines Vorhangs.
    Sie klopfte und wartete. Nach einer Weile klopfte sie erneut an die Tür zum Dachboden.
    »Joey?«
    Die Tür öffnete sich, und er stand da, die Hand auf der Klinke, einen fragenden Ausdruck im Gesicht, als habe er einen Vertreter vor sich, der an der

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