Madame Butterflys Schatten
Joey von der Schule abholte und er sich in ihre Arme warf, sich an ihren Hals klammerte, sie fast erwürgte. Eine andere Mutter ging vorbei und starrte verwundert auf das Kind, das sich so fest an die blonde Frau klammerte. Joey hatte ihr zugerufen: »Das ist meine Mom!«, und die Frau hatte genickt und war weitergegangen, den Blick abgewandt, verwundert über die Heftigkeit, mit der eine ganz normale Feststellung vorgebracht wurde.
Aber Nancy hatte den schmalen Jungen an ihre Schulter gedrückt und leise und verwundert gesagt: »Das ist mein Sohn.«
Sie hätte Nachforschungen anstellen und herausfinden können, dass Joeys Mutter noch am Leben war. Aber wäre das besser gewesen? Vielleicht hätte er erklärt, dass er nach Hause wollte zu seiner richtigen Mutter? »Vielleicht« war ein gefährliches Wort, wer konnte schon wissen, wie die Sache ausgegangen wäre?
Nancy übernahm sozusagen die undankbare Rolle der Überlebenden. Sie hatte ihm die Möglichkeit gegeben, um eine perfekte tote Mutter zu trauern, eine makellose Trauer, die neue Triebe hervorbringen konnte.
Während er sie jetzt mit einer anderen Version der Vergangenheit konfrontierte: »Sie hat mich also einfach weggegeben. Sie hat mich nicht gewollt …«
»Sie wollte das Beste für dich und deinen Vater.«
Das war die Wahrheit, bestimmt, zumindest eine Version der Wahrheit, aber keineswegs die ganze.
Und jetzt?, fragte sie sich. Würde Joey Cho-Cho schreiben und ihr mitteilen, dass er »nach Hause« wollte? Zu seiner richtigen Mutter, welche die Schmerzen bei seiner Geburt durchlitten, ein Kind geschaffen, eine Perle aus ihrem gepeinigten Leib herausgepresst hatte und gegen die Nancy nicht mehr als ein mattes Abziehbild war? Stumm rief sie durch die zitternde Luft über den Ozean hinweg: Ich habe mein Bestes getan! Ich habe immer mein Bestes für ihn getan. Ich habe das Kind geliebt. Sie sah Joey an, verärgert, wütend, die kurz geschnittenen goldenen Haare, die blauen Augen, den großen mageren Jungen, und sie spürte, wie ihr Herz in ihrer Brust einen Purzelbaum wie ein Schwimmer an der Bande schlug. Er bemerkte ihr Zucken und fragte: »Alles in Ordnung?« Und als sie, unfähig zu sprechen, nur den Kopf schüttelte, streckte er die Arme aus und umarmte sie unbeholfen, unerwartet.
Er sagte: »Sie hat nie geschrieben und gefragt, wie es mir geht, hat nie um ein Bild gebeten. Sie führt ihr Leben und ich meines. Lassen wir es darauf beruhen. Das gehört alles der Vergangenheit an.«
Als die anderen später alle in der Küche waren, kam er leise die Treppe herunter. Der Brief lag auf dem Tisch, daneben die Fotografie. Er nahm sie in die Hand und musterte die Familie darauf: den dünnen, blassen Mann, die hübsche, mollige Frau und die drei kleinen Töchter, alle formell in Kimonos gekleidet, mit gefalteten Händen, den Blick in die Kamera gerichtet.
Sie gehörten zu seiner Familie, diese Mädchen waren seine Basen, so wie Jack, der von einem Leben bei der Marine träumte, sein Vetter war. Er sah sich in dem Spiegel über dem Kamin: ein jüngerer Jack. Aber in ihm verborgen ruhten Samen, die zu einem anderen Familienstamm gehörten.
»Das alles gehört der Vergangenheit an«, hatte er zu Nancy gesagt. Aber die Vergangenheit war ein beweglicher Kontinent.
Die Altstadt im North End von Portland verband Burnside und die Park Blocks. Das Gebiet, das sich von dort bis zum Fluss Willamette erstreckte, war neu für Joey, buchstäblich ein fremdes Land: bekannt auch als Japantown oder nihonmachi in der Sprache seiner Bewohner. Er wanderte durch die Straßen des Viertels, fand sie verwirrend mit ihren rätselhaften Straßenschildern, den Plakaten und Schriftzügen mit fremdartigen Symbolen, die eher wie eckige Zeichnungen statt wie richtige Schrift aussahen. Alles war fremd, merkwürdig: das Straßengeflecht, das bis zum Flussufer reichte, die alten Läden unter schmalen Markisen, die riesigen Fenster, in denen sich seltsame Waren stapelten, unbekanntes Essen, Gerüche, die aus Türen drangen und die er eklig fand, weil auch sie ihm unbekannt waren. Und dann plötzlich an einer Ecke ein riesiges Gebäude mit Reihen von Bogenfenstern: das Merchant Hotel, das hier so fehl am Platze wirkte wie ein gestrandeter Wal.
Er überquerte die Straße und bog in engere Gassen ein, wo alte Plakate mit Abbildungen von fetten Ringern, Schwertkämpfern mit vergitterten Helmen und Laternenumzügen unverständliche Veranstaltungen ankündigten. Die Straßen waren voll von
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