Madame Butterflys Schatten
Namen, doch aus ihrem Mund kam nichts als ein heiseres Krächzen, das ihr die Kehle zerriss.
Eine Hand schloss sich um die ihre, sie hörte eine flüsternde Stimme.
Jetzt öffnete sie die Augen: Über ihr hing verschwommen Suzukis Gesicht wie ein abnehmender Mond und sprach beruhigend auf sie ein. Sie lebte, und das Kind war fort. Eine tiefe Traurigkeit bemächtigte sich ihrer, die schleichende Erkenntnis, dass von nun an Leere, verzehrende Sehnsucht und Reue ihre ständigen Begleiter sein würden. Kein Joy mehr. Keine Freude.
Als ihre Wunde heilte und sie feststellte, dass sie noch sprechen konnte, flüsterte sie Sharpless, der an ihrem Bett stand und sich zu ihr herunterbeugte, ein paar Worte zu. Das Schiff hatte gewiss schon abgelegt, nicht wahr? Er nickte.
Still lag sie da, das Einzige, was sich in ihrem Gesicht bewegte, waren die Tränen; sie sammelten sich in ihren Augenwinkeln, liefen über ihre Wangen, fanden salzig den Weg in ihren Mund.
Sie wolle allein sein, flüsterte sie.
In den Wochen danach kniete Suzuki neben Cho-Chos Futon, betrachtete das blasse Gesicht, hager wie ein Totenschädel, die Augen geschlossen vor einer Welt, die sie daran gehindert hatte, ehrenvoll aus ihr zu scheiden. Sie weigerte sich, mit Sharpless zu sprechen, der regelmäßig vor der Tür stand und von Suzuki mit einer hastig geflüsterten Entschuldigung wieder fortgeschickt wurde.
Als amerikanischer Diplomat war er es gewohnt, in zweifacher Hinsicht auf Feindseligkeit zu stoßen, und er begegnete all ihren Erscheinungsformen – Verachtung, Abscheu, Vorurteile – mit Gleichmut. »Wenn Sie damit nicht zurechtkommen, dann halten Sie sich von Japan lieber fern«, erklärte er einem verzweifelten Geschäftsmann aus Texas. »Warum sollten sie uns mögen? Wir haben ihnen Perry mit den Schwarzen Schiffen geschickt, wir haben sie – mit Gewalt – dazu gezwungen, sich dem Handel zu öffnen. Wir bringen Veränderung, während sie Tradition vorziehen. Wir sind zu laut, zu geradeheraus. Wir verändern dieses Land auf Gedeih und Verderb, und wir wissen genauso wenig wie sie, wohin das letzten Endes führen wird.«
Ablehnung war ihm also nicht fremd. Er verstand, warum Cho-Cho, einst seine Freundin, jetzt seine Feindin war: Er hatte ihr das Leben gerettet, und das konnte sie ihm nicht verzeihen. Wenigstens war sie im Augenblick zur Untätigkeit verurteilt. Er befürchtete jedoch, sie könnte sich etwas antun und das vollenden, was sie begonnen hatte, sobald sie wieder so weit zu Kräften gekommen war, dass sie sich allein im Haus bewegen konnte.
War es der Vogel, der die Veränderung brachte?
Der Vogel, ein dunkel gefiederter Fink mit einem orangefarbenen Fleck auf der Brust, fiel eines Tages im Spätherbst vom Himmel und hüpfte auf der Suche nach Samen oder Beeren mit schief gelegtem Kopf und wachsamen Augen durch den kleinen Garten. Cho-Cho saß am Fenster und sah teilnahmslos hinaus. Der Vogel kam näher heran, wagte sich bis an die Tür und beäugte die reglose Gestalt am Fenster. Einen Moment musterten der Vogel und die junge Frau einander. Dann erhob sich der Vogel in die Luft und war gleich darauf verschwunden.
Am nächsten Tag war er wieder da.
Suzuki stellte jeden Tag eine Schale mit miso -Suppe und einen kleinen Teller mit Fisch und Reis neben Cho-Cho, in der Hoffnung, sie damit locken zu können. Für gewöhnlich räumte sie den Teller unangerührt wieder ab. Als sich der Vogel an diesem Tag scheinbar ziellos im Zickzack hüpfend der Tür näherte, nahm Cho-Cho ein paar Reiskörner vom Teller, schob die shoji -Tür auf und streute die Körner auf die Schwelle.
Der Vogel beobachtete sie. Sie beobachtete den Vogel. Suzuki beobachtete die beiden von einem Durchgang aus. Keiner bewegte sich. Schließlich trippelte der Fink mit raschen Schritten zu den Reiskörnern und pickte sie auf. Dann senkte er langsam den Kopf, als verbeuge er sich, drehte seiner Wohltäterin das Hinterteil zu und ließ ein beeindruckendes Häufchen auf die Schwelle fallen.
Suzuki im Raum nebenan hörte einen seltsam erstickten Laut und eilte rasch herbei, um nach Cho-Cho zu sehen. Sie stellte fest, dass Cho-Cho sich die Hand an die Kehle hielt und lachte.
Sie drehte sich zu Suzuki um.
»Siehst du diesen Vogel? Ich habe ihn gefüttert. In einer der alten Geschichten hätte er eine Stimme gehabt und zu mir gesprochen, wahrscheinlich hätte sich herausgestellt, dass er ein Prinz oder ein Gott ist. Etwas Besonderes. Vornehmes. Und jetzt schau dir das
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