Madame Butterflys Schatten
statt des blutbefleckten Kimonos trug sie jetzt ein weißes Krankenhaushemd, ihre Haut hob sich grau von dem weißen Kissen ab.
Er blickte hinunter auf ihr starres Gesicht, das aus Elfenbein hätte geschnitzt sein können, und versuchte, sich in sie hineinzuversetzen.
Sharpless hatte einmal das Schwert von Cho-Chos Vater gesehen; in seiner verzierten Scheide mit der Aufschrift »Ehrenvoll sterbe, wer nicht länger mehr leben kann in Ehren« hatte es harmlos gewirkt. Ihr Vater hatte es benutzt, als ihm sonst nur die Schande geblieben wäre; er hatte sich auf den seppuku vorbereitet, die Kraft gefunden, sich mit dem furchtbaren kreuzweise geführten Schnitt auf rituelle Weise den Leib aufzuschlitzen, »das Innerste nach außen zu kehren«, wie es einer von Sharpless‘ Landsleuten einmal treffend beschrieben hatte.
Die traditionelle Waffe für eine Frau war das kaiken , zierlich und tödlich. Beim Selbstmord einer Frau, jigai , galt der Stoß der Drosselvene, nicht dem Leib. Er stellte sich Cho-Cho allein in dem Raum vor. Sie hatte sich vor dem Schwert ihres Vaters in seiner dunklen Seidenhülle verbeugt und dann nach einer bestimmten Stelle an ihrem Hals getastet, weitgehend schmerzunempfindlich und jedem Japaner bekannt. Dann hatte sie die Spitze des Dolchs an dieser Stelle angesetzt und zugestoßen …
Noch immer versuchte Sharpless, sich über den Gang der Ereignisse klar zu werden. Nancy und Pinkerton hatten Cho-Cho in einen schrecklichen Zwiespalt gestürzt. Sie musste abwägen zwischen dem, was sie sich sehnlich wünschte, und dem, was das Beste für das Kind war. Eine Wahl treffen. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie fest entschlossen gewesen, das Kind zu behalten, aber irgendetwas hatte sie dazu bewogen, ihre Meinung zu ändern. Nancy hatte ihm eine Erklärung geliefert, doch das, was er jetzt vor sich sah, erzählte eine andere Geschichte. Wo lag die Wahrheit?
Im Japanischen gab es ein Wort für Wahrheit: makoto . Ma bedeutete vollkommen und koto Zustand. Wie erreichte man einen vollkommenen Zustand? Man konnte es mit Gesprächen versuchen, einer Analyse, aber manchmal blieb nur Zeit für die Tat.
Vielleicht hatte Cho-Cho gedacht, makoto , der vollkommene Zustand, lasse sich dadurch herbeiführen, dass sie sich das Leben nahm, um das Kind zu retten und ihm ein neues Leben zu schenken. Aber diese Schlussfolgerung erschien ihm zu einfach. Er erinnerte sich daran, dass sie einmal über Opfer gesprochen hatten. Ihr Vater hatte sein Leben geopfert: Seine Ehre stand auf dem Spiel, nachdem er alles verloren hatte. Sharpless hatte mit Nachdruck erklärt, seiner Ansicht nach sei das falsch, ihr Vater hätte weiterleben müssen, um für sie zu sorgen. Wie es jetzt schien, war sie ebenfalls zu dem Schluss gelangt, dass es am besten war, wenn sie aus dem Leben schied. Wann hatte sie diese Entscheidung gefällt? Und warum?
Bei der Amtsübergabe hatte sein Vorgänger zu ihm gesagt: »Versuchen Sie gar nicht erst, mit einem Japaner zu streiten. Die Japaner streiten nicht, sie ziehen sich einfach zurück. Das heißt aber nicht, dass sie einer Meinung mit Ihnen sind.«
Widersprüchliche Erklärungen gingen ihm durch den Kopf, während er dasaß und auf eine Regung des blassen kleinen Gesichts, des zerbrechlichen Körpers wartete. Flüchtig streifte ihn der Gedanke, dass die beiden Schiffe inzwischen abgelegt haben mussten, das von Pinkerton auf dem Weg in den nächsten Anlaufhafen, während das andere seine Nichte mit Cho-Chos Kind davontrug.
Erst viel später kam ihm die Frage in den Sinn, wie das Blut auf den Kimono des Kindes geraten war und was genau Nancy in dem Haus auf dem Hügel gesehen hatte.
Kapitel 25
SCHMERZ DRANG IN Cho-Chos Bewusstsein. Jede Kopfbewegung jagte Schmerz durch ihren Körper, ihre Kehle brannte wie Feuer, ihr Mund war wie ausgedörrt. Der Schmerz löschte alles andere aus. Flach ausgestreckt lag sie mit geschlossenen Augen da und tastete sich durch die Leere, als bewege sie sich ohne ein Licht durch die finstere Nacht.
Wo kam der Schmerz her? Wo war sie? Dann setzte ihr Herz einen Schlag aus – wo war Joy? Er sollte doch wie immer an ihrer Seite sein, sich im Schlaf an sie schmiegen, mit halb geöffnetem Mund geräuschvoll atmen. Sie lauschte, aber sie konnte die kindlichen Atemzüge nicht hören.
Mit einem Schlag kehrte die Erinnerung zurück. Die Welt brach zusammen, begrub sie unter ihren Trümmern. Sie richtete sich abrupt auf, fiel sofort wieder zurück, schrie seinen
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