Madame Butterflys Schatten
Vokabeln beizubringen war auf die Dauer keine Lösung. Cho-Cho überlegte, welche Möglichkeiten ihr offenstanden: Welche Fähigkeiten, welche Fertigkeiten besaß sie, die sie nutzen konnte?
Sie trat ans Fenster und blickte auf den Hafen hinunter, in dem wie immer geschäftiges Treiben herrschte. Waren wurden ein- und ausgeladen, und auf den Kais drängten sich mit Metallkisten, Truhen, Körben und Bündeln beladene Passagiere und warteten darauf, an Bord eines Schiffes zu gehen, das sie in eine neue Welt mit einem neuen – besseren – Leben bringen würde.
Doch viele alte Menschen waren in Nagasaki zurückgelassen worden. Ihre Kinder hatten sich bereits ein neues Leben in Amerika aufgebaut, ihre Enkel waren Amerikaner, und in deren schnelllebiger, fremder Welt blieb wenig Zeit für Briefe – manche von ihnen konnten nicht einmal mehr Japanisch lesen und schreiben. Wenn die Alten ihnen Briefe auf Englisch schreiben könnten, würde das ein viel stärkeres Band zwischen den beiden Welten schaffen. Diejenigen, die zurückgeblieben waren, überlegte Cho-Cho, würden sich nicht so ausgeschlossen fühlen: Ihre wunderbaren jungen amerikanischen Familien könnten Nachrichten aus der alten Heimat empfangen – in Englisch!
Sie würde ihre Dienste als Schreiberin anbieten, das war eine traditionelle Beschäftigung.
Vielleicht könnte sie von Zeit zu Zeit auch selbst einen Brief an das verlorene Kind richten, an Joy. Er würde mit » Mein geliebter Sachio « beginnen, aber er würde niemals abgeschickt werden.
Mrs. Sinclair von der methodistischen Mission war eine gute Freundin von Henry Sharpless; sie war Nancy während ihres kurzen, unseligen Aufenthalts hier begegnet und kannte die ganze Geschichte. Als Cho-Cho in der Mission erschien und um eine Unterredung mit Mrs. Sinclair bat, eilte sie aus ihrem Büro herbei und fasste Cho-Cho bei den Händen. »Meine Liebe!«
Sie musterte die zierliche, blasse junge Frau und überlegte, was sie als Nächstes sagen sollte. Es erschien ihr wenig angebracht, sich nach Cho-Chos Gesundheit zu erkundigen. Ihre Besucherin rettete sie aus der Verlegenheit, indem sie zwar mit leiser Stimme, aber erstaunlich selbstsicher die Führung des Gesprächs übernahm.
»Mrs. Sinclair, ich lerne seit einiger Zeit Englisch. Inzwischen beherrsche ich die Sprache recht gut. Ich kann Englisch lesen und schreiben und weiß einiges über das Leben im Westen. Ein paar Familien in Nagasaki nutzen meine Fähigkeiten und übergeben mir ihre Korrespondenz, aber ich habe noch Zeit übrig. Vielleicht wäre es möglich, dass ich den Mädchen in der Mission Unterricht erteile?«
Sie verzichtete darauf zu erwähnen, dass sie früher die zur Unterhaltung der Gäste in den Teehäusern angestellten Mädchen unterrichtet hatte, denn der dort gewünschte Wortschatz und Umgangston war für die gottesfürchtigen Missionsschülerinnen kaum angemessen. Wenn die Teehausmädchen sich mühsam durch ihre Lektionen gearbeitet und Sätze aus Hauptwörtern, Zeitwörtern und Eigenschaftswörtern gebildet hatten, hatte stets etwas Unausgesprochenes mit im Raum geschwebt: die Suche nach einer Möglichkeit, verborgenen Wünschen Ausdruck zu verleihen, gehört zu werden, eine Stimme zu haben.
Für Mrs. Sinclair hielt sie einen anderen Köder bereit: Sie erklärte ihr, sie habe Pinkertons wegen damit begonnen, sich mit der methodistischen Glaubenslehre zu beschäftigen – lasst eure guten Werke leuchten vor aller Welt … Wäre die Mission daher so freundlich, ihren Unterricht als gutes Werk zu betrachten? Wenn sie ihr im Gegenzug ein bisschen Geld zukommen ließe, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, würde das womöglich ebenfalls als gutes Werk gelten.
Und damit war der nächste Schritt getan.
Eine Zeit lang waren Cho-Chos Tage mit Englischunterricht ausgefüllt – einfache Unterhaltungen, Lesen, Schreiben, Erdkunde. Sie hatte sich einen Vorwand einfallen lassen, um Suzuki dazu zu bringen, die Arbeit in der Seidenfabrik aufzugeben.
»Die Maschinen haben jetzt schon viele Narben auf deinen Händen hinterlassen. Ich fürchte, deine Haut ist irgendwann so rau, dass du beim Wäschewaschen den Stoff zerreißt. Bitte tu mir den Gefallen und lass deine Finger wieder so glatt werden wie früher, Suzuki.«
Suzuki wusste, was sie in Wahrheit sagen wollte, und Cho-Cho wusste, dass Suzuki es wusste. Die Hände des Dienstmädchens heilten im Lauf der Zeit. Währenddessen wurde Cho-Cho der Unterricht in der Mission immer mehr zur
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