Madame de Maintenon
sonderlich von ihren Vettern vom Lande. Alle steuerten Substanz und Würze zu der dicken Suppe einer Großstadt im Werden bei.
In diesem Gemisch von drei- oder vierhunderttausend Seelen fand Françoise einen Vetter vom Lande, der obendrein noch ein armer Vetter war; aber dennoch war sie vor dem Schmutz und den Gefahren auf den gesetzlosen Straßen besser gesichert als die meisten. Das komfortable Haus des Baron de Saint-Hermant stand außerhalb der mittelalterlichen Mauern, in Richtung der südlichen Grenzen der Stadt in einem neuen, noch im Aufbau befindlichen Wohnviertel. Der Baron hatte die angesehene Stellung eines maitre d'hôtel ordinaire innerhalb des königlichen Haushalts inne und kümmerte sich um die Bedienung an der Tafel des Königs. Er durfte daher im Louvre wohnen, ein bis zwei Meilen entfernt, aber wenn er sich dort aufhielt, ließ er seine Frau und seine Töchter daheim, von denen eine, Marie-Marguerite, ungefähr so alt war wie Françoise. Marie-Marguerite war offenbar ein recht kundiges Stadtmädchen, verglichen mit der provinziellen Françoise; mit Sicherheit las sie Gedichte und – skandalös – »Romane«, mit oder ohne
Genehmigung ihrer nach außen hin frommen Tante Madame de Neuillant. Die beiden Mädchen schlossen gleichwohl Freundschaft miteinander, und in Gesellschaft der selbstbewußten Mademoiselle de Saint-Hermant lernte Françoise jetzt aus erster Hand die kultivierte Welt der Salons kennen, von der sie von Cabart de Villermont auf den karibischen Inseln und dem Chevalier de Méré in Niort gehört hatte.
Ein Freund der Familie Saint-Hermant, wohnte Cabart de Villermont jetzt nur einen Sprung von ihrem Haus in der Sackgasse Saint-Dominique entfernt, und sehr wahrscheinlich war er es, der als erster die Mädchen einlud, vielleicht mit der Baronin als Anstandsdame, einen Abend bei Speisen und Konversation in seinem großen Haus in der Straße mit dem vielsagenden Namen Rue d'Enfer (Höllenstraße), direkt neben den Gärten des Palais d'Orleans, zu verbringen. Das Haus, Hôtel de Troyes genannt, war in Wirklichkeit nicht seines. Er war dort nur Mieter, da seine zahlreichen unternehmerischen Vorhaben bislang finanziell noch keine Früchte getragen hatten, ein entschuldbares Versagen bei einem Mann, der noch keine vollen dreiundzwanzig Jahre zählte. Sein Vermieter im Hôtel de Troyes, der Abbé Paul Scarron, war ein ganzes Stück älter, bereits über vierzig, und wenn er auch nicht reich war, so war er doch berühmt oder vielmehr berüchtigt. Verfasser zahlloser kluger und anrüchiger Verse, Gelehrter und geistreicher Kopf, ein Mann von adliger Geburt, aber ohne Geld, ein gescheiterter Priester, bekannt als Frauenheld und Schande für seine Familie, war Scarron außerdem schrecklich verkrüppelt, Opfer eines bösartigen Rheumatismus, den er sich, wie manche sagten, durch seine jugendlichen Ausschweifungen zugezogen hatte. Sein Leben als Geistlicher, nie mehr als ein Vorwand für eine jährliche Pfründe, lag längst hinter ihm, und er verdankte seinen Ruhm jetzt vor allem seinen Schriften – manches davon literarisch wertvoll, aber vieles entschieden pikant – und seinem regelmäßigen abendlichen Salon, einem
Mekka für jeden Pariser, den es nach Kultur und Geselligkeit verlangte.
Scarrons vielbesuchter Salon war paradoxerweise aus seinen Behinderungen erwachsen. Als es für ihn immer schwieriger wurde, sich zu bewegen und andere zu besuchen, hatten seine Freunde sich angewöhnt, zu ihm zu kommen, und er führte inzwischen seit mehreren Jahren ein mehr oder weniger offenes Haus. In Kenntnis der bescheidenen Mittel ihres Gastgebers pflegten die Gäste ihr Essen, ihren Wein und etwas Feuerholz mitzubringen, und auf diese Weise hatte Scarron sein großes gelbes Wohnzimmer zu einem veritablen Salon parisien entwickeln können, in dem jedem Teilnehmer eine gute Konversation und eine gute Mahlzeit garantiert waren. Der ursprüngliche Freundeskreis blieb und bildete jetzt so etwas wie einen Mittelpunkt, um den alle kreisten, Einwohner von Paris oder Besucher von außerhalb, Gläubige und Freidenker, Leute, die an Büchern oder Kunst oder Klatsch interessiert waren, und da eine geistreiche Konversation schon immer in Mode war, auch Höflinge und Leute aus der besseren Gesellschaft. Früher oder später klopfte jeder an Scarrons offene Tür, sogar die Jesuiten.
Angesichts der Reputation des Gastgebers ist es auf den ersten Blick erstaunlich, daß Marie-Marguerite und Françoise mit oder
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