Madame de Maintenon
Kampf jetzt als moralischen Widerstand gegen die Ketzerei des Protestantismus deuten. Ludwig selbst wußte sehr wohl, daß es um zwei ganz verschiedene Dinge ging, aber andere an seinem Hof, darunter auch Françoise, redeten sich die schlichtere Deutung ein und verschlossen ihre Augen vor der Tatsache, daß das katholische Spanien ins feindliche Lager eingetreten war. »Einen größeren Krieg
807 hat noch kein König von Frankreich geführt«, erklärte der siebzigjährige Graf Bussy-Rabutin mit dem ganzen Elan eines mittlerweile häuslichen Menschen. »Der König hat seine Infanterie
808 um fünfzigtausend Mann vergrößert; er hat siebzig Miliz-Bataillone aufgestellt und seine Kavallerie um sechzehntausend Mann erweitert und seine Dragoner entsprechend«, schrieb der Herzog von Saint-Simon, ebenfalls mit der Begeisterung eines Nichtkombattanten.
Bei Françoise mochte die Zugehörigkeit zum Katholizismus und die persönliche Freundschaft mit Königin Maria die Begeisterung für die Sache der Jakobiten in England erklären – »Niemand sollte sich darüber wundern
809 ; wir sahen, wie der kleine Prinz von Wales aufwuchs« –, aber das entschuldigte nicht ihr offenkundiges Stillschweigen über die Verwüstungen in der Heimat Liselottes. Der brutale und nicht provozierte Überfall des östlichen Nachbarn ging dem
halbherzigen Gegenangriff im Westen zeitlich voraus, und wenn Françoise das jetzt so hinstellte, als ginge es um zwei Aspekte ein und desselben Krieges, wie sie es offenbar tat, dann spricht daraus entweder Naivität oder Fanatismus oder vorsätzliche Blindheit, und nichts davon warf ein gutes Licht auf sie. Tatsächlich spricht am meisten für letzteres, denn so aufrichtig ihre Unterstützung für Jakob war, so gab es doch nichts, was Françoise hätte sagen können, um den Überfall auf die Pfalz zu verhindern oder seine Grausamkeit zu mildern. »Wenn man einer Frau erlaubt
810 , sich zu wichtigen Dingen zu äußern, ist es unvermeidlich, daß sie einen falsch versteht«, schreibt Ludwig in seinen Mémoires . In den aus den Jahren 1689 und 1690 erhalten gebliebenen Briefen erwähnt Françoise den Krieg kaum einmal. Unfähig, Ludwigs Handlungsweise zu rechtfertigen, und ebenso unfähig, sie zu bändigen, zog sie sich auf die scheinbar harmlosen Alltagsangelegenheiten von Saint-Cyr zurück.
* *
Im Herbst besitzt Saint-Cyr eine heitere Schönheit. Im anmutigen Schmuck des goldenen Laubes strahlt der weiße Stein Würde und Selbstsicherheit aus. Doch wenn das sanfte Licht sich eintrübt und einem regnerischen Himmel oder dem düsteren Grau des Schnees weicht, bekommt die Selbstsicherheit etwas Bedrohliches, und die Schlichtheit schlägt um in Trostlosigkeit.
Françoise überdachte ihr Projekt. Ihr innovatives und ehrgeiziges Vorhaben hatte nach hoffnungsvollen Anfängen zunächst einen reibungslosen Verlauf genommen. Innerhalb weniger Jahre waren jedoch größere Probleme aufgetaucht und hatten quälende Zweifel in ihre strahlende Zuversicht gemischt.
Zumindest in einer Hinsicht hatte sie recht behalten: Es war unklug gewesen, auf sumpfigem Grund zu bauen. Von den Mädchen waren viele an Malariafieber erkrankt, und
nicht wenige waren gestorben. Zudem hatte sich gezeigt, daß das Grundwasser zum Trinken kaum geeignet war, und die langen steinernen Schlafsäle waren feucht und kalt.
Die meisten Lehrerinnen hatten sich als unfähig erwiesen, »die dümmsten Geschöpfe
811 , die mir jemals unter die Augen gekommen sind«, wie Françoise erklärte. Ausgewählt von einer zu enthusiastischen Madame de Brinon und einem viel zu nachsichtigen Père Gobelin, mußten sie sich erst einer Einweisung unterziehen, bevor man sie in die Klassenzimmer ließ. Was aber die Sache schlimmer machte, als es die unzulänglich vorbereiteten Damen allein geschafft hätten, war die Widersprüchlichkeit von Françoise selbst. Monatelange beharrliche und aufrichtige Bemühungen sowohl der Damen als sicherlich auch von Françoise sollten durch einen einzigen verbitterten Gefühlsausbruch oder herzlosen Sinneswandel zunichte gemacht werden. »Es gibt keine andere Schule
812 , an der junge Leute so viel Spaß haben«, schrieb Françoise über Saint-Cyr, »und auch wenn es ein bißchen zu viel Spaß ist, verursacht das am Ende weit weniger Probleme als zu viel Ernsthaftigkeit.« Racines ernste Esther hatte rasch den weltlichen Stücken von Molière und den Romanen von Madeleine de Scudéry Platz gemacht, die alle von »Liebe«
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