Madame Hemingway - Roman
Madame.« Marie Cocotte trat ins Schlafzimmer, dessen Vorhänge noch von der letzten Nacht aufgerissen waren.
»Hören die jemals auf zu spielen?«, fragte ich mit einem Nicken in Richtung Fenster in meinem immer noch uneleganten Französisch.
»Heute nicht«, lachte sie.
»Der Nationalfeiertag scheint niemals zu enden«, bemerkte ich, und sie lachte wieder.
»So haben wir es eben gern«, erklärte sie.
Der Sommer zog sich in die Länge, wurde zu mehreren Sommern nacheinander, in denen die Zeit stillzustehen schien. Mir fiel es immer schwerer, meine Tage sinnvoll zu füllen. Ich bekam wieder oft Kopfschmerzen. Ich wusste zwar, dass ich Ernests Arbeit nicht ablehnen oder gar zu verhindern suchen sollte, doch ich war immer dann am glücklichsten, wenn er beim Aufwachen verkündete, er werde an diesem Tag nicht einmal versuchen zu schreiben, und wir sollten stattdessen zu einem Boxwettkampf gehen, oder hinaus aufs Land fahren und uns ein Radrennen ansehen.
Eines Tages luden Gertrude und Alice uns zum Lunch in ihr Landhaus in Meaux ein. Wir fuhren alle zusammen in Gertrudes Modell T hinaus und picknickten reichhaltig mit Eiern in zwei Variationen, Kartoffeln und gebratenem Hühnchen. Dazu tranken wir mehrere Flaschen gekühlten Weins und Drei-Sterne-Hennessy.Die Landschaft war herrlich: die Täler und Brücken, das reizende Haus mit den blühenden Bäumen davor. Nach dem Essen lagen wir im Gras und redeten und fühlten uns frei.
Ernest zeigte Gertrude mittlerweile all seine Texte und las im Gegenzug ihre. Zu Beginn ihrer Freundschaft hatte ihn ihre komplizierte Art zu schreiben noch abgeschreckt, doch allmählich lernte er, die Fremdartigkeit ihrer Werke zu schätzen und entwickelte immer mehr Interesse an ihrer Arbeit. Sie nahm sogar Einfluss auf seinen Stil, insbesondere ihre Angewohnheit, konkrete Dinge, Orte und Menschen zu benennen und diese Bezeichnung mehrfach ohne Variationen zu wiederholen, um die Kraft zu feiern, die jedem beliebigen Wort verliehen wurde, wenn man es nur immer wieder verwendete. In einigen Passagen der Nick-Adams-Storys erkannte ich diese Eigenart wieder, er wiederholte darin die einfachsten Dinge in der einfachsten Sprache –
See, Forelle, Baumstamm, Boot
–, was den Texten einen aufs Wesentliche konzentrierten, beinahe mythischen Charakter verlieh.
Ernests Freundschaft mit Gertrude war offensichtlich für beide Seiten von großer Bedeutung, und mir gefiel es, dass wir alle immer vertrauter miteinander wurden, auch wenn sich bei unseren Treffen immer noch hartnäckig Zweiergruppen bildeten. Ernest und Gertrude waren die Künstler, und wenn sie sich mit zusammengesteckten Köpfen unterhielten, wirkten sie beinahe wie Geschwister. Alice und ich waren auch außerhalb der vier Wände des Salons die Ehefrauen, und sie schien mit ihrer Rolle ganz zufrieden. War ich das auch? Ernest unterstützte mein Klavierspiel und bezeichnete es oft als meine »Arbeit«, als wäre auch ich eine Künstlerin. Ich spielte sehr gern und empfand es als wichtigen Teil meines Lebens, doch ich war ganz und gar nicht davon überzeugt, dass ich etwas Besonderes war, so wie Ernest. Er befand sich innerhalb der kreativenSphäre, während ich außen vor blieb, und ich glaubte nicht, dass sich daran jemals etwas ändern würde. Alice schien ihre Rolle als Künstlergattin leichter zu fallen, und sie stellte sich völlig hinter Gertrudes Ambitionen, doch vielleicht hatte sie auch einfach schon mehr Übung darin und konnte ihren Neid besser verbergen. Ich schaute durch mein Cognacglas auf die helle Decke aus irischer Wolle wie durch ein Kaleidoskop. Ich sagte mir, dass wir jetzt gerade zusammen hier waren. Dass alles gut und schön war. Dass ich mir dessen bewusst sein, mich daran festhalten und glücklich sein sollte. Das würde ich tun. Ich würde es versuchen.
Am nächsten Tag schliefen wir lang, und ich spürte den Hennessy beim Aufstehen. Ernest musste es ähnlich gehen, da er noch im Bett zu mir sagte: »Heute werde ich wohl nichts zustande bringen. Ich sollte es gleich sein lassen.«
»Du könntest trotzdem erst mal gehen und es versuchen, nur für ein paar Stunden«, schlug ich vor, verspürte jedoch einen leichten Stich, weil ich es nicht ernst meinte.
»Nein«, entgegnete er. »Ich weiß jetzt schon, dass es nichts bringen würde.«
Wir standen auf und frühstückten. Dann beschlossen wir, zu den Pferderennen nach Auteuil zu fahren. Außerhalb der Stadt würde es sicher kühler sein. Marie Cocotte
Weitere Kostenlose Bücher