Madame Hemingway - Roman
Das alles lag nicht etwa Jahre zurück, sondern war genau in diesem Moment in seinen Augen zu sehen. Erwar wie eine zerbrochene Puppe nach Mailand zurückgekehrt. Er war kein Held, sondern ein Junge, der sich womöglich niemals von dem erholen würde, was er damals gesehen und erlebt hatte. Mich überkam tiefe Trauer bei dem Gedanken, dass er vielleicht für immer gebrochen sein würde, so sehr ich ihn auch liebte und versuchte, ihn wieder heil zu machen.
»Du denkst bestimmt an Agnes«, sagte ich nach einer Weile.
»Nur ein bisschen.« Er legte seine Hand auf meine. »Ich bin froh, dass wir zusammen hier sind.«
»Ich auch.« Ich wusste, dass er die Wahrheit sagte, doch ich wusste auch, dass er am liebsten Agnes und mich gemeinsam bei sich gehabt hätte: seine Vergangenheit und seine Gegenwart, die ihn beide bedingungslos liebten. Und dazu die Erdbeeren, den Wein, den Sonnenschein und die warmen Steine unter unseren Füßen. Er wollte alles, was man nur haben konnte, und noch viel mehr.
Den nächsten Nachmittag verbrachte ich schlafend und lesend in unserem Hotelzimmer, während Ernest sich um das Interview mit Mussolini kümmerte. Dieser war kürzlich in die italienische Abgeordnetenkammer gewählt worden, und Ernest war ganz fasziniert von ihm. Der Mann vereinigte dermaßen viele Widersprüche in sich: Er war stark nationalistisch und wollte Italien durch einen Rückgriff auf die römische Vergangenheit wieder zu Ruhm und Ehre führen; er schien sich wirklich für die Belange der Arbeiterklasse und der Frauen einzusetzen, wie er im
Manifest des faschistischen Kampfes
dargelegt hatte, und doch brachte er es zugleich fertig, sich bei Aristokratie und Bürgertum beliebt zu machen, da er ihnen ihre fortwährende Existenz zusicherte. Er schien alles für alle zu wollen, war traditionell und revolutionär zugleich, und wurde vom Militär, von Geschäftsmännern und von Liberalen gleichermaßen verehrt. Die National-FaschistischePartei bekam so viel Aufwind, dass ihr Sieg unvermeidlich schien.
»Bist du nervös?«, fragte ich Ernest, als er seine Notizblöcke sortierte und sich zum Aufbruch bereit machte.
»Wieso? Das ist doch bloß ein Maulheld, oder nicht?«
»Ich weiß nicht. Einige behaupten, er sei ein Ungeheuer.«
»Vielleicht, aber Ungeheuer sehen nicht immer wie welche aus. Manchmal haben sie saubere Fingernägel, benutzen Messer und Gabel und sprechen die englische Hochsprache.«
Ich knöpfte seinen Mantel zu und strich den Stoff über seinen Schultern glatt.
»Nun mach kein großes Aufhebens darum. Ruh dich einfach aus und mach dir keine Sorgen.«
Als er nach zwei Stunden ins Hotel zurückkehrte, berichtete er mir mit größtem Vergnügen, dass er richtig gelegen hatte. »Der Mann ist eine Mogelpackung bis hier hin«, erklärte er und wies mit der Hand auf seinen Hals. »Und darüber befindet sich rein gar nichts.«
»Hatte er wieder sein schwarzes Hemd an?«, fragte ich, deutlich erleichtert.
»Die trugen dort alle so eins.« Er setzte sich an den Schreibtisch und steckte frisches Papier in seine Corona. »Er ist übrigens größer, als man denken würde, und hat ein breites braunes Gesicht und äußerst hübsche Hände. Geradezu Frauenhände.«
»Das würde ich an deiner Stelle lieber nicht schreiben.«
Er lachte und legte an der Schreibmaschine los; wie üblich hämmerten seine Finger rasend schnell und ohne Unterbrechung darauf ein. »Und noch etwas«, sagte er, ohne aufzuschauen. »Bei ihm im Zimmer war ein wunderschöner Wolfshundwelpe.«
»Das faschistische Ungeheuer ist also ein Hundeliebhaber.«
»Vielleicht wollte er ihn zum Abendbrot verspeisen«, sagte er grinsend.
»Du bist unmöglich.«
»Ja«, sagte er, während sein Zeigefinger, bereit für einen weiteren Angriff, über der Maschine schwebte. »Das war ein ganz prächtiger Hund.«
Am nächsten Tag fuhren wir mit dem Bus nach Schio, wo Ernest mir die Mühle und die Glyzinien und all die anderen Dinge zeigen wollte, die er im Gegensatz zu den dramatischen Geschehnissen jener Nacht noch so deutlich in Erinnerung hatte. Auf dem Weg dorthin verdunkelte sich der Himmel und wurde grau. Es begann zu regnen und hörte nicht mehr auf. Als wir die Stadt schließlich erreichten, wirkte Ernest überrascht. »Sie ist so viel kleiner«, sagte er.
»Vielleicht ist sie im Regen geschrumpft«, erwiderte ich, in einem vergeblichen Versuch, die Stimmung aufzulockern. Während unseres gesamten Aufenthalts rang Ernest mit seinen
Weitere Kostenlose Bücher