Madame Hemingway - Roman
Erinnerungen. In den vier Jahren seit seiner Abreise hatte sich alles verändert und war schäbig geworden. Die Wollfabrik, die während des Krieges geschlossen gewesen war, spuckte eine schwarze Brühe in den Bach, in dem Ernest und Chink an so vielen heißen Nachmittagen gebadet hatten. Wir liefen im Regen die gebogenen Gässchen auf und ab, doch alles wirkte trostlos und verlassen, und das Geschirr, die Tischtücher und die Postkarten in den Schaufenstern sahen billig aus. Die Tavernen waren menschenleer. Wir betraten einen Weinladen, in dem ein Mädchen saß und Wolle kämmte.
»Ich erkenne diese Stadt kaum wieder«, sprach Ernest sie auf Englisch an. »So viel hat sich verändert.«
Sie nickte und fuhr mit ihrer Arbeit fort, zog den Wollkamm vor und zurück, bis die weißen Fasern lang und weich wurden.
»Glaubst du, sie versteht dich?«, flüsterte ich Ernest zu.
»Sie versteht mich.«
»Mein Mann war während des Krieges hier«, erklärte ich.
»Der Krieg ist vorbei«, sagte sie, ohne aufzusehen.
Ernüchtert gaben wir unsere Erkundungstour auf und gingen zum Einchecken ins Due Spadi. Dort hatte sich jedoch auch einiges geändert, das Bett knarrte, die Laken sahen billig und verschlissen aus, und die Glühbirnen waren von einer Staubschicht bedeckt.
Während unseres faden Abendmahls sagte Ernest: »Vielleicht ist gar nichts davon wirklich geschehen.«
»Aber natürlich ist es das«, widersprach ich ihm. »Ich wünschte, Chink wäre hier. Er würde uns schon aufmuntern können.«
»Nein. Das hier wäre auch für ihn zu viel.«
Wir schliefen schlecht in jener Nacht, und als der Morgen anbrach, regnete es immer noch. Ernest wollte mir nach wie vor Fossalta zeigen, die Stelle, an der er verwundet worden war, also fanden wir einen Fahrer, der uns bis Verona brachte, und stiegen dort in einen Zug nach Mestre, wo wir wieder einen Wagen mit Fahrer ausfindig machen mussten. So waren wir den ganzen Tag unterwegs, und währenddessen studierte Ernest unablässig Landkarten und versuchte, die Landschaft, die vor dem Fenster an uns vorbeizog, mit seinen Erinnerungen abzugleichen. Doch nichts war unverändert geblieben. In Fossalta war es sogar noch schlimmer als in Schio, da hier überhaupt nichts mehr auf den Krieg hinwies. Die Schützengräben und Unterstände waren verschwunden. Die zerbombten Häuser und Gebäude waren ersetzt worden. Als Ernest schließlich den Hang wiederfand, an dem er angeschossen wurde, sah dieser grün, unversehrt und vollkommen lieblich aus. Alles wirkte unecht. Vor nur wenigen Jahren waren hier Tausende Männer gestorben, Ernest selbst hatte hier voller Granatsplitter gelegen und viel Blut verloren, doch alles sah glänzend und sauber aus, als hätte das Land selbst seine Vergangenheit vergessen.
Bevor wir weiterfuhren, durchkämmte Ernest die Hecken und tauchte schließlich mit einem kleinen verrosteten Überrest einer Granate wieder auf, der kaum die Größe eines Knopfes besaß.
»Seiner Vergangenheit hinterherzujagen ist ein übles Spiel, nicht wahr?« Er sah mich an. »Wieso bin ich nur hergekommen?«
»Du weißt, weshalb«, antwortete ich.
Er wendete den rostigen Splitter ein paar Mal in der Hand, und ich vermutete, dass er über unser Gespräch mit Chink nachdachte, und darüber, dass er sich auf sein Bild vom Krieg nicht länger verlassen konnte. Er konnte seiner eigenen Erinnerung nicht trauen. Die Zeit war unzuverlässig, löste sich auf und starb – auch wenn alles ganz lebendig
schien
. Wie der Frühling. Um uns herum wuchs das Gras. Die Vögel in den Bäumen machten einen Höllenlärm. Die Sonne schien verheißungsvoll auf uns herab. Von diesem Tag an würde Ernest den Frühling für immer hassen.
Sechzehn
In Paris hatten die Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag begonnen, und zu jeder Tages- und Nachtzeit wurde auf den Straßen getanzt und gesungen. Es war laut und heiß, an Schlaf war kaum zu denken. Ich sah Ernests ruhelose Umrisse im Dunkeln, er hatte einen Arm über sein Gesicht gelegt.
»Bald ist unser Hochzeitstag«, bemerkte ich.
»Sollen wir irgendwo hinfahren?«
»Wohin könnten wir denn?«
»Nach Deutschland, oder vielleicht auch nach Spanien.«
»Wir müssten nicht unbedingt fort«, erklärte ich. »Wir könnten auch hierbleiben und uns betrinken und lieben.«
»Das könnten wir auch jetzt tun.« Er lachte.
»Ja, das könnten wir«, sagte ich.
Unter dem Schlafzimmerfenster spielte ein Klarinettist leise ein paar Takte, verstummte jedoch wieder, da
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