Madame Hemingway - Roman
verlassen hatte. Nur die kleine Reisetasche fehlte.
Sie war nicht unter meinem Sitz. Ich sah sie nirgendwo.
In Panik versetzt, rief ich nach dem Schaffner.
»Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, fragte meine Sitznachbarin, während ich auf ihn wartete. Sie war eine Amerikanerin mittleren Alters, die allein unterwegs zu sein schien. »Ich kann Ihnen etwas von mir zum Anziehen leihen.«
»Das waren keine Anziehsachen!«, schrie ich, und die arme Frau drehte sich, verständlicherweise entsetzt, rasch zur Seite. Als der Schaffner endlich kam, schien er mich zunächst ebenfallsnicht zu verstehen. Ich konnte nicht schnell genug aufhören zu weinen, um die richtigen Worte in meinem schrecklichen Französisch zu finden. Schließlich rief er zwei französische Polizisten hinzu, die mich aus dem Zug führten und draußen befragten, während alle durchs Fenster hindurch zusahen. Sie wollten meine Papiere sehen, die einer der Polizisten überprüfte, während der andere mich bat, die Tasche und jede meiner Handlungen im Detail zu beschreiben.
»Gehörte diese Tasche Ihnen?«
»Meinem Ehemann.«
»Ist er im Zug?«
»Nein, er ist in der Schweiz. Ich wollte sie ihm bringen. Darin ist seine Arbeit.
Drei Jahre
seiner Arbeit.« Bei dieser Aussage verlor ich endgültig die Fassung. Mir wurde ganz schlecht vor Angst. »Warum stehen Sie hier noch herum und fragen mich aus?« Meine Stimme wurde schrill. »Er entkommt! Er ist vermutlich längst über alle Berge!«
»Ihr Ehemann, Madame?«
»Der Dieb, Sie Dummkopf!«
»Wir können Ihnen nicht helfen, wenn Sie sich hysterisch aufführen, Madame.«
»Bitte.« Ich hatte das Gefühl, ich würde gleich den Verstand verlieren. »Bitte durchsuchen Sie doch wenigstens den Zug. Und den Bahnhof.«
»Wie hoch schätzen Sie den Wert der Tasche und ihres Inhalts ein?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich wie benebelt. »Es ist seine
Arbeit
.«
»Ja, das sagten Sie bereits. Wir tun unser Bestes.« Und die beiden Männer entfernten sich dienstbeflissen.
Der Schaffner erklärte sich einverstanden, den Zug noch zehn Minuten warten zu lassen, während die Polizei ihre Suche durchführte. Sie liefen von einem Ende des Zuges zumanderen und fragten die anderen Passagiere, ob sie die Tasche gesehen hatten. Ich glaubte keinen Moment daran, dass der Dieb sich immer noch im Zug befand. Offensichtlich handelte es sich um einen ganz gewöhnlichen Taschendieb, der eine Gelegenheit erkannt und ergriffen hatte. Er hatte wohl auf Wertgegenstände gehofft, doch stattdessen befand sich in der Tasche jeder einzelne Gedanke und jeder einzelne Satz, mit denen Ernest sich in Paris und schon davor abgerackert hatte, die Storys und Skizzen aus Chicago, jedes Gedicht und jedes einzelne Fragment. Er hatte nie etwas weggeworfen, und alles befand sich in dieser Tasche.
Die beiden Polizisten stiegen mit leeren Händen aus dem Zug. »Noch keine Spur, Madame«, erklärte einer von ihnen. »Wir werden weitersuchen, aber wenn Sie immer noch in die Schweiz reisen wollen, sollten Sie sich nun auf Ihren Platz begeben.«
Ich gab ihnen unsere Adresse und die Telefonnummer des Tanzlokals, da wir keinen Apparat in der Wohnung hatten, doch ich hegte kaum Hoffnungen, dass ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt sein würden. Paris war riesig und es war schon viel zu viel Zeit verstrichen. Ich stellte mir vor, wie der Dieb in eine leere Seitengasse huschte, die Tasche öffnete und dann gleich wieder zumachte. Er konnte sie an Ort und Stelle fallen gelassen oder irgendwo auf den Müll geworfen haben. Sie konnte sich mittlerweile in jeder Gasse, jedem Rinnstein und jeder brennenden Mülltonne von Paris befinden. Sie konnte genau in diesem Augenblick langsam auf den Grund der Seine hinabsinken.
»Es tut mir sehr leid für Sie«, sagte meine Sitznachbarin, als ich schließlich wieder in meinem Abteil angelangt war.
»Nein, mir tut es leid«, sagte ich und brach erneut in Tränen aus. »Normalerweise bin ich nicht so aufgebracht.«
»War Ihnen sehr teuer, was Sie verloren haben?«
Der Zug dröhnte unter unseren Füßen und bewegte sich dann mit einem endgültigen Ruck vom Bahnsteig fort. Nichts war mehr anzuhalten oder zu ändern. Was geschehen war, konnte ich nicht mehr rückgängig machen. Ich war ganz von Angst und einer neuen, schwer errungenen Gewissheit durchdrungen. Die Antwort auf ihre Frage war eindeutig.
»Unbezahlbar«, sagte ich und wandte mich ab.
Zweiundzwanzig
Die folgende Nacht war die längste meines Lebens. Als
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