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Madame Hemingway - Roman

Madame Hemingway - Roman

Titel: Madame Hemingway - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula McLain
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wir uns der Schweiz näherten, schlossen sich die Berge um uns, und es wurde dunkel. Ich überlegte fieberhaft, wie ich Ernest sagen sollte, dass seine Arbeit verschwunden war, doch ich konnte es mir einfach nicht vorstellen. Es gab dafür keine passenden Worte.
    Als wir am nächsten Morgen endlich Lausanne erreichten und ich Ernest gemeinsam mit Steffens auf dem Bahnsteig erspähte, konnte ich mich gerade so auf den Beinen halten und auf sie zugehen. Ich weinte. Ernest schaute Steffens schulterzuckend an, als wollte er sagen:
Verstehe einer die Frauen
, doch als ich gar nicht aufhören konnte, wusste Ernest, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
    Ich brauchte noch eine Ewigkeit, bis ich es aussprechen konnte. Steffens entschuldigte sich und versprach Ernest, ihn anzurufen, um ein Treffen zu vereinbaren. Als er fort war, brachte mich Ernest in ein Café in der Nähe des Bahnhofs, wo wir uns an einen Tisch setzten. Um uns herum gaben sich Pärchen und Familien Abschiedsküsse und sagten sich Lebewohl. Sie wirkten alle so schmerzhaft sorglos auf mich. Erneut brach ich in Tränen aus.
    »Was hast du denn bloß?«, fragte Ernest unablässig, zuerst besorgt und liebevoll, dann wütend, dann wieder besorgt. »Was es auch ist, wir werden schon damit fertig. Nichts kann so schlimm sein.«
    Doch das war es. Es war so schlimm. Unfassbar schlimm. Ich schüttelte den Kopf und weinte noch heftiger, und so ging es eine ganze Weile, bis ich schließlich so weit war, ihm zuerzählen, wie ich die Tasche gepackt und dann für die Reise verstaut hatte.
    Mehr brauchte ich gar nicht zu sagen. Er wurde ganz blass und sehr ernst. »Du hast sie im Zug liegen gelassen.«
    »Jemand hat sie gestohlen.«
    Er nickte, nahm meine Worte auf. Ich beobachtete aufmerksam seine Augen, wie sich sein Blick veränderte, fest wurde, wieder verschwamm und erneut fest wurde. Mir war klar, dass er versuchte, für mich stark zu sein, da er nicht wusste, was ich sonst tun würde.
    »Du kannst doch nicht alles eingepackt haben. Warum sollte ich denn alles brauchen?«
    »Ich dachte, wenn du Änderungen an den Originalen vornehmen willst, würdest du auch die Kopien dahaben wollen, damit alles seine Ordnung hat.«
    »Du musst doch irgendetwas dagelassen haben«, insistierte er.
    Ich schüttelte den Kopf und wartete. Würde der Druck ihn zerreißen und einen Wutanfall auslösen? Ich hätte es zweifellos verdient. Ich hatte genommen, was ihm gehörte – mehr als alles andere auf der Welt –, ohne darum gebeten worden zu sein, als hätte ich das Recht dazu. Und nun war es fort.
    »Ich muss zurückfahren. Ich muss es mit eigenen Augen sehen.«
    »Es tut mir so leid, Tatie.« Ich wurde von Gewissensbissen und Verzweiflung geschüttelt.
    »So schlimm ist es nicht. Ich habe es ja geschrieben. Ich kann auch alles noch einmal schreiben.«
    Ich wusste, dass er mir etwas vorspielte oder sogar glatt log, doch ich umarmte ihn heftig und ließ mich von ihm festhalten, und wir sagten einander all die Dinge, die Menschen einander sagen, wenn sie wissen, dass das Schlimmste eingetreten ist.
    Spät an diesem Abend fuhr er mit dem Zug zurück nach Paris, während ich untröstlich in Lausanne auf ihn wartete. Steffens führte mich zum Essen aus und versuchte, meine Nerven zu beruhigen, doch auch nach mehreren Gläsern Whiskey war ich noch völlig aufgelöst.
    Er blieb zwei Tage fort und schickte kein Telegramm. Doch ich hatte das Bild von mir selbst noch deutlich vor Augen, wie ich mehrmals in den Schrank griff und alles in die Tasche steckte, und ebenso deutlich sah ich ihn nun, wie er die stille Wohnung betrat und mit eigenen Augen sah, dass wirklich alles verschwunden war.
    Er macht das Licht an und schaut zunächst in alle Räume, sieht auf dem Bett, dem Tisch und in der Küche nach. Dann blickt er auf den Fußboden, läuft langsam von einem Zimmer ins andere und spart sich den Schrank bis zum Schluss auf, wenn er alles andere überprüft hat. Denn der Schrank ist die letzte Möglichkeit, danach kann er nirgends mehr suchen und muss die Hoffnung endgültig aufgeben. Er nimmt zuerst einen Schluck aus der Hausbar, dann noch einen, aber schließlich muss er nachsehen. Er umschließt den Knauf mit der Hand, zieht die Tür auf, und dann weiß er alles. Nicht ein einziges Blatt Papier ist mehr übrig. Keine Notiz und kein Schmierzettel. Er kann den Blick nicht abwenden und steht einfach nur da, innerlich zerrissen. Die Leere im Schrank spiegelt seine eigene Leere wider, da die

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