Madame Lotti
Scheitel bis zur Sohle überzieht mich eine Gänsehaut.
Draussen ist das Licht inzwischen ganz weich, zeichnet sich der Mond schon schwach am Himmel ab. Arlette, die zurück ist, hat sich mit der ganzen Kinderschar in den Hof gesetzt. Es wird gesungen, getanzt, getrommelt, gelacht. Osé und Hermas, Arlettes Kinder, sitzen etwas abseits, geniessen, was ihnen ihre Mutter von ihrem Ausflug mitgebracht hat. Frittierte, von Öl triefende Süssigkeiten. Keines der aidskranken Kinder bettelt die beiden darum an. So klein sie sind, so genau wissen sie schon, dass sich ihre Tri-Therapie mit fetthaltigen Speisen absolut nicht verträgt.
Alimata sieht dem Treiben beim Sonnenschirmbaum von ihrem Bett aus zu. Ich lächle sie an, zurück kommt ein abgrundtief leerer Blick. Und genau dieser ist es, der mich zu ihr hinzieht. Ich berühre kurz ihre Hände, frage, ob sie etwas brauche, bekomme ein Kopfschütteln und sonst nichts. Was wurde diesem Mädchen alles angetan? Niemand hier weiss das, denn Alimata lächelt nicht nur nicht, sie spricht auch nicht. Alles, was sie gesagt hat, war, dass sie nicht in einem Zimmer, sondern draussen liegen möchte. Fatoumata, ihre Bettnachbarin, die ihre Mutter sein könnte, nimmt sich des Mädchens an, und Lotti hofft, dass sie die Mauer, die die Fünfzehnjährige um sich herum betoniert hat, aufbröckeln kann.
Ich setze mich neben ihr Bett auf den Boden und kraule «Espoir», der kleinen Katze, die sich schnurrend in meinen Schoss kringelt, den Rücken. Lotti hat sie aufgenommen, damit sie, wenn sie einmal gross und stark ist, den Mäusen hier den Garaus macht. Noch ist sie allerdings so klein, dünn und unglaublich schmutzig, dass sie für die Mäuse wohl keine allzu grosse Gefahr darstellt.
Das sirrende Geräusch, das mich nun drangsaliert, kommt von einer Stechmücke, die mir ans Blut will. Ich stehe auf, um in Lottis Büro den Moskitospray zu holen, der mich – zusätzlich zu den Prophylaxetabletten – vor der Anopheles-Mücke schützen soll, die ausschliesslich bei Dämmerung sticht und Malaria überträgt. Ich öffne ganz leise die Türe, sehe, dass Lotti nach wie vor mit Deborah in den Armen auf dem Bett sitzt. Alleine.
«Wo ist die Tante?»
«Nach Hause gegangen, nachdem Elisabeth wiedergekommen ist.»
«Und wo ist dann Elisabeth?»
«Sie hielt es hier nicht mehr aus, wollte draussen warten.»
Lotti bittet mich, das Tuch, auf dem Deborah lag, geradezuziehen, legt die Kleine ab, streichelt ihr übers Gesicht, meint: «Es dauert nicht mehr lange, dann hat sie es geschafft, warte du hier schnell bei ihr, ich hole das Stethoskop.»
Ich nehme Deborahs Händchen in meine Hände, summe jenes Wiegenlied, das mit den Worten «Schlaf mein Kind, ich wieg dich leise» beginnt, achte auf Deborahs Atem, merke, dass sie jeden dritten Atemzug auslässt, und sehe, dass der Schleim, der sich in ihrem Mund bildet, mit Blut vermischt ist.
Als Lotti zurückkommt, erklärt sie mir: «Dieses Blut könnte ein Hinweis darauf sein, dass Deborah vergiftet worden ist.»
Nachfragen, um die Wahrheit herauszufinden, will sie aber nicht. Und schon gar nicht anklagen. Es ist, wie es ist. Und – davon ist Lotti überzeugt – für Deborahs Seele ist der Tod ihres Körpers im wahrsten Sinne des Wortes eine Erlösung.
Um zehn Uhr nachts hört Deborah zu atmen auf, hört Lotti keine Herztöne mehr. Deborah ging unglaublich still aus dem Leben. Während ich draussen nach ihrer Mutter suche, wickelt Lotti die Kleine noch einmal. Als ich mit Elisabeth zurück bin, setzt sie sich zu ihrer Tochter, streichelt ihr über den Kopf, murmelt ein paar leise, unverständliche Worte, schaut dann Lotti an.
«Was jetzt?»
Lotti antwortet mit einer Gegenfrage: «Was möchtest du?»
Die Mutter möchte Deborah nach Hause tragen und sie am nächsten Morgen irgendwo beerdigen. Lotti weiss, dass dies von Gesetzes wegen verboten ist. Aber sie weiss auch, dass die Mutter weder für den Leichenwagen, den sie jetzt bestellen müsste, noch für einen Sarg Geld aufbringen kann. Weiter weiss sie, dass, wenn die Mutter all dies nicht bezahlen kann, Deborah in die Pathologie kommt und dort als besonders interessanter Fall seziert wird. Es ist klar: Lotti will das verhindern und, falls es nicht anders geht, Elisabeth das nötige Geld geben. Weil sie die Spendengelder aber lieber für die Lebenden einsetzt, kommt sie der Bitte der Mutter nach und nickt.
Ich helfe Elisabeth, das tote, unglaublich schwere Kind auf den Rücken zu binden,
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