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Madame Lotti

Madame Lotti

Titel: Madame Lotti Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Arx
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hinten nach vorne und von vorne nach hinten durchgeblättert ist, haben sie genug und marschieren auf mehr oder weniger sicheren Beinen zur Duplo-Kiste, die Solange als Alternative zum Auto bereitgestellt hat.
    Ich lege das Album auf den Esstisch und freue mich, dass es die nächsten Tage ständig in irgendwelchen Händen liegt. Nie hätte ich mir träumen lassen, welche Freude ich den Menschen mit den Bildern bereiten würde.
    Alimata schläft, Mamadou, Monsieur Konatés Sohn, auch. Und Noël? Der hübsche Junge, der gestern nach Arlette fragte, liegt heute nicht mit Shorts und T-Shirt, sondern mit langen Hosen samt Gürtel und langärmligem Hemd auf seinem Bett. Nachdem Lotti heute Morgen die Kleinen geweckt hat, damit sie auf die Minute pünktlich ihre diversen Medikamente gegen Aids bekommen, hat sie sich Noël gewidmet, ihn gewaschen und eingekleidet. Er bat um lange Hosen und Hemd, damit man nicht sieht, wie dünn er ist. Ich gehe zu ihm hin, frage, ob ich mich aufs Bett setzen dürfe, bekomme erst ein Nicken und dann ein breites Lächeln. Noël möchte wissen, wie es mir geht.
    «Gut, es geht mir gut. Und dir? Du siehst heute besonders schön aus.»
    «Danke. Es geht mir auch gut.»
    Ich frage ihn, ob er gestern, Sonntag, Besuch bekommen habe, und er meint: «Nein, gestern ist niemand vorbeigekommen, aber das ist egal, denn ich brauche hier gar keinen Besuch. Ich bin gerne hier, weisst du, es ist mein neues Zuhause.»
    Obwohl wir nicht mehr reden, bleibe ich sitzen. Nicht weil ich denke, dies bringe ihm etwas, sondern weil ich fühle, wie gut mir seine Ruhe tut. Und damit wäre zumindest eine meiner vielen Fragen beantwortet, nämlich die, woher Lotti ihre Energie nimmt. Einmal schrieb sie mir dazu:
    Glaub mir, ich bekomme mehr, als ich gebe. Im Sterbespital durchfluten mich Gefühle von Liebe, Zärtlichkeit und Licht. Früher habe ich mich oft gefragt, woher dieses Strahlen kommt. Heute weiss ich es. Hoffnungsvoll wird hier gelächelt, zärtliche Blicke werden ausgetauscht, liebe Worte werden gesprochen. Eine unendliche Dankbarkeit erfüllt mich, hier sein zu dürfen
.
    Hier spüre ich die Gegenwart von Gott. Ich sehe ihn im Lächeln von Emanuel, fühle ihn am Bett von Aimé, erkenne ihn in den Gesten des blinden Felix. Und wenn ich Sterbebegleitung mache, dann dünkt es mich manchmal, Gott sitze an der anderen Bettseite. Ich weiss, dass er nicht sauer auf mich ist, weil ich am Sonntag nicht in der Kirche hocke. Mein Platz ist hier
.
    Weil Lotti einst sagte, dass die Kranken eine Fussmassage schätzen, frage ich Noël, ob er eine haben möchte.
    Noël schaut mich an: «Wenn es dir nichts ausmacht, gerne.»
    Nein, es macht mir nichts aus. Heute nicht. Gestern noch reichte meine Kraft nur dafür, tröstend Hände und Arme anzufassen, deren Knochen spitz und kalt direkt unter der trockenen Haut liegen. Aber heute finde ich den Mut, einen Schritt weiter zu gehen. Ich stehe auf, um in der kleinen Apotheke die giftgrüne Massagecreme zu holen. Ihr wärmender Effekt verwandelt Noëls eiskalte Füsse schon bald in angenehm warme und meine eh schon heissen Hände in glühende Kohlen. Als beide Füsse von den Zehen bis zur Ferse massiert sind, offeriere ich noch eine Handmassage. Noël winkt ab: «Es ist genug, danke, ich werde jetzt ein bisschen schlafen.»
    Bevor ich das Zimmer verlasse, setze ich mich noch zu Felix aufs Bett.
    «Goooby?», fragt er.
    «Ja, ich bins, wie geht es dir Felix?»
    «Danke, es geht mir gut. Heute Nacht habe ich bestens geschlafen, das kommt nicht häufig vor. Weisst du, die Falten im Leintuch stören mich oft.»
    Ich weiss es, schon mehrmals habe ich beobachtet, mit welcher Achtsamkeit er sein Laken glatt streicht. Im gleichen Masse, wie seine Sehfähigkeit abgenommen hat, muss sein Tast- und Spürsinn zugenommen haben, anders ist seine Empfindlichkeit, was Falten angeht, nicht zu erklären. Nachdem ich mich von ihm verabschiedet habe, gehe ich ins Ambulatorium, um Adelaide, die Breimutter, Monsieur David, den Apotheker, und Emmanuel, den Ruander, der am Empfang arbeitet, zu begrüssen. Auf dem Weg dorthin begegne ich den drei Hühnern, die Lotti früher regelmässig schier überfuhr. Meiner Meinung nach zumindest. Sie sah es immer etwas anders, lächelnd erinnere ich mich an ihre Worte: «Reg dich ab, so wie ich hier noch nie in einen Unfall geraten bin» – was an sich schon an ein Wunder grenzt! –, «so werde ich nie ein Federvieh auf dem Gewissen haben. Nicht mal dann, wenn ich

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