Madame Lotti
Fussballfeld, einem von Abfallbergen umgebenen Platz mit zwei sehr zerschlissenen, behelfsmässig zusammengezimmerten Toren, ankomme, sehe ich ein Schild, das früher nicht dastand. Mit einem Pflock wurde es in den Boden gerammt. Weiss auf schwarz, mit Kreide auf Schiefer, steht dort die Warnung: «Interdit de jeter les ordures sur le terrain pour peine d’amande coup de points». Wörtlich übersetzt: Wer hier Abfall deponiert, bekommt es mit Mandeln und einem Schlag mit Punkten zu tun. Nun, wer immer dieses Schild gekritzelt hat, es zeigt, dass Französisch hier die Sprache der einstigen Kolonialmacht ist, gemeint war vermutlich: «pour peine d’amende coups de poing» – als Strafe drohen Schläge mit der Faust.
Wieder auf der grossen Strasse, zupft mich ein kleiner Junge von hinten an der Hose. Ich drehe mich um und erkenne ihn an seinem Lachen. Ein Lachen, das ich bei meinem ersten Besuch mit der Kamera festgehalten habe, ein Strahlen, das schlicht einzigartig ist. Ich beuge mich zu ihm hinunter, frage, wo seine Mutter sei. Er führt mich zu ihr. Sie ist gerade damit beschäftigt, einen kleinen Stand mit Süssigkeiten aufzubauen, und freut sich sehr, als ich ihr sage, dass ich ihr noch heute ein Bild ihres Sonnenscheins vorbeibringen werde.
Als ich Lotti beim Frühstück treffe, ist sie mit einem alten Mann in ein Gespräch vertieft. Es handelt sich wohl um den Moslem, von dem sie mir schon erzählt hat und mit dem sie oft lange philosophische Gespräche führt. Ein Greis, der an einem Stock geht und in seinem sauberen blauen Kleid mit den gelben Bordüren nicht ganz so arm wirkt wie viele andere hier. Die Würde, die er ausstrahlt, und seine Jahre machen ihn zu einem Weisen. Er, das wird schnell klar, hält grosse Stücke auf «Madame Lotti» und geniesst es, mit einem belesenen Menschen zu diskutieren. Lotti macht uns miteinander bekannt und erzählt ihm schmunzelnd, ich hätte viele Fragen, die mit Warum begännen. Er empfiehlt mir, keine Fragen zu stellen, sondern auf Gott zu vertrauen. Er schaut mich eindringlich an, sagt: «Tout ce que Dieu fait est bon.» Ein Satz, den ich hier schon x-mal gehört und gelesen habe und der von Christen ebenso proklamiert wird wie von Moslems und Evangelisten. «Alles, was Gott macht, ist gut.» Worte, die, das wird mir jetzt, wo ich sie aus seinem Mund vernehme, klar, nicht von Fatalismus zeugen, sondern von dem unendlich tiefen Vertrauen, dass eines Tages alles seinen Sinn bekommen wird.
Lotti geht nach dem Frühstück direkt ins Ambulatorium, wo heute die «cas sociaux», die Sozialfälle erwartet werden. Menschen, deren Hütten weder über eine Glühbirne noch ein Radio oder gar einen Kühlschrank verfügen und die zum Kochen kein Gas, sondern offenes Feuer benutzen. Sie werden im Ambulatorium nicht nur gratis behandelt, sondern bekommen auch Milchpulver, Teigwaren, Mehl und Reis mit nach Hause. Ich entscheide mich, nicht ins Ambulatorium zu gehen, sondern ins Sterbespital, möchte auf dem Weg das Foto des kleinen Strahlemannes abliefern. Ich finde ihn am Rockzipfel seiner Mutter hängen, knie mich zu ihm runter, gebe ihm das Bild und verwandle damit sein Strahlen in null Komma nichts in ein weinerliches Zwanzig-nach-acht-Gesicht. Es dauert eine Weile, bis mir klar wird, dass der Bub noch nie in seinem Leben eine Fotografie von sich gesehen hat. Seine Mutter tröstet ihn lachend, nimmt ihm das Bild aus der Hand, schaut es lange an und versorgt es dann sorgsam in den Falten ihres Kleides.
Im Sterbespital empfängt mich ein weinendes Quartett. Emanuel, Christ, Willy und sogar der kleine Mohamed sind aber nicht einfach traurig, sondern vor allem entrüstet. Den Grund dafür sehe ich eben hinter Lottis Bürotüre verschwinden. Ein grosses Tretauto aus Plastik. Ein Auto, vier Kinder, das ist auch hier ein Garant für Streitereien. Streitereien, zu welchen Solange, das Kindermädchen, heute ganz offensichtlich nicht die geringste Lust hat. Der Einzige, der das Leben momentan zum Jauchzen schön findet, ist Antoine, der wippend in einem an einer langen Feder an der Decke befestigten Stoffsitz hängt und dabei hin und her zappelt wie ein Fisch an der Angel. Die Tränen der vier Streithähne trocknen schnell, als ich das Fotoalbum, das ich mitgebracht habe, öffne. Flugs sitzen zwei rechts und zwei links von mir und können sich an den Bildern von ihnen, vom blinden Felix, von Arlette, Solange und all den anderen kaum satt sehen. Erst als das Album zum zehnten Mal von
Weitere Kostenlose Bücher