Madame Lotti
und begleite die beiden zur Pforte des Sterbespitals, wo sie, kaum draussen, von der Nacht verschluckt werden. Es ist aber nicht die Dunkelheit alleine, die sie so schnell unsichtbar macht, es ist vor allem Elisabeths Fähigkeit, nicht aufzufallen.
Es wäre übertrieben, zu sagen, dass mich dieses Bild, wie Mutter und Kind sich im Nichts auflösen, verfolgt, denn es hat nichts Grauenvolles. Aber ich werde es als etwas unendlich Trauriges in Erinnerung behalten. Und doch: Dass die kleine Deborah ihre letzte Reise auf dem Rücken ihrer Mutter antreten kann, hat bei aller Trauer auch etwas Tröstliches.
Monate später wird mir eine Freundin, die vor Jahren ihr Baby, das an einem nicht operierbaren Herzfehler litt, verlor, erzählen, dass sie genau das hatte tun wollen: Laura, die kurz vor ihrem ersten Geburtstag starb, aus dem Spital nach Hause tragen und dort Abschied nehmen, dort den Schmerz mit allen teilen.
Eine Stunde später kramt Lotti zum zweiten Mal in ihrem Papierstapel und holt einen Text hervor, den sie vor vier Jahren geschrieben hat. Damals wurde sie zum ersten Mal damit konfrontiert, einer Mutter ihr totes Baby auf dem Rücken mit nach Hause geben zu müssen, und hat sich dabei in deren Lage versetzt:
Mein Baby ist tot, mein kleines Mädchen, sechs Wochen alt, mit seinen grossen Augen, seinen zarten Haaren, seinen Ohren aus Samt und seinen kleinen Fingern, die sich so oft an meinen festhielten, ist tot. Wie nur ist es möglich, dass ich heute genötigt werde, es auf meinen Rücken zu binden, genau so wie ein lebendes Kind?
Aus den durch seine Arbeit blind gewordenen Augen meines Mannes kommen heisse Tränen. Ich kann ihn ebenso wenig trösten wie er mich. Warum hat er sein Augenlicht verloren? Warum unsere Tochter ihr Leben? Warum musste ich dieses einzige Glück, das ich habe, diese Freude, diesen Reichtum, dieses Wissen darum, dass mein Erstgeborenes mich überleben wird, verlieren?
Weil ich arm bin! Weil ich in Afrika geboren wurde! Weil ich schwarz bin!
Das sind die Gründe, warum wir nicht einmal die Mittel haben, unser kleines Mädchen richtig zu beerdigen! Warum uns nichts anderes bleibt, als ein kleines Loch zu buddeln, irgendwo auf einem freien Stück Erde, um unserer Tochter wenigstens ein Grab zu geben!
Es erschien mir immer, Gott liebe die Armen, es erschien mir immer, Gott habe selbst erlebt, was es heisst, zu leiden
.
Weiss er, wie es sich anfühlt, die eigene kleine Tochter auf dem Rücken zu tragen, tot und nicht vor Leben strotzend?
Ich – gestern noch siebzehn, bin heute um hundert Jahre gealtert
.
Montag, 8. März
Die Fragen, die mich bereits um fünf Uhr aus dem Schlaf reissen, sind zahlreich: Was tue ich mit der Erkenntnis, wie privilegiert ich lebe? Was mit der Armut, die ich hier erfahre? Wo ist meine Revolution? Woraus schöpft Lotti ihre Kraft? Woher kommt ihre Energie, Tag für Tag von früh morgens bis spät in der Nacht unterwegs zu sein und ohne Unterlass zu geben? Leise gehe ich unter die Dusche, geniesse jeden einzelnen Tropfen des kalten Wassers. Dann fülle ich die drei Kessel, die unter dem Lavabo stehen, damit wir uns heute Abend wenigstens einer Katzenwäsche unterziehen können. Noch vor einem Jahr war Wasser hier kein Problem. Doch inzwischen haben die vielen Kriegsflüchtlinge aus dem Norden, die nach wochenlangen Fussmärschen im Slum ankommen und hier Unterschlupf suchen, die Wassersituation verschärft. Was tue ich mit der Selbstverständlichkeit, mit der ich zu Hause zu jeder Tages- und Nachtzeit bade, dusche, den Garten spritze? Die Selbstverständlichkeit, mit der die Menschen hier diese ungerechte Verteilung hinnehmen, verblüfft mich immer wieder.
Ich schlüpfe in meine Turnschuhe, höre Lotti in ihrem Zimmer rumoren, klopfe an ihre Türe und sage: «Ich gehe spazieren, um ein paar Fragen aus dem Kopf zu kriegen.»
Ich nehme kleine Wege, die ich bis jetzt gemieden habe, treffe überall auf freundliche Wünsche zu einem guten Tag, auf «Bonjour» und auf sympathisch lächelnde Gesichter. Ich komme an einer Schule vorbei, an deren Aussenwand mit weisser Farbe hingemalt wurde, dass, wer hier hinpinkelt, vier Franken Busse bezahlen muss. Ein Vermögen. Davor spielen Kinder mit Schnüren, leeren Konservendosen, Bananenschalen und kaputten Pneus. Ein Mädchen sitzt stolz wie eine Prinzessin auf einem Fahrrad, das weder Hinter- noch Vorderrad hat, ein anderes trägt auf seinem Kopf eine mit Kieselsteinen gefüllte Sardinenbüchse. Als ich beim
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