Madame Zhou und der Fahrradfriseur
Euro 1001 Chinesen in 5 Gruppen jeweils für eine Woche in einer stillgelegten Halle, in der VW-Autobezüge produziert worden waren, schlafen ließ. Dieses Kunstwerk nannte er »Fairytale«. Doch dass er zur gleichen Zeit am »Vogelnest« mitgearbeitet hat, wusste ich nicht. »Aber Ai Weiwei protestierte danach in einer englischen Zeitung auch gegen die Olympischen Spiele in Peking. Er beklagte, dass China die Spiele zur Propaganda ausnutzt«, sagt Du Qi.
Darüber hatte ich in deutschen Medien gelesen.
In der Annahme, dass ich es nicht verstehe, erläutert Du Qi: »Das ist so, als ob ein Architekt eine Hühnerfabrik entwirft, in der Millionen Hennen Milliarden Eier legen sollen. Damit verdient er viel Geld. Doch kaum ist die Anlage fertig, und er hat das Geld eingesteckt, stellt er sich im Ausland vor die Presse und protestiert, um internationale Aufmerksamkeit zu erhalten, gegen seine Anlage, in der Millionen Hennen gezwungen werden, Milliarden Eier zu legen.«
Und dann sagt der Germanistik-Student weise wie Laotse: »Es ist heutzutage wahrscheinlich sehr schwer, als Künstler Moral und Geld im Gleichgewicht zu halten.«
Als ich merke, dass ihm das Thema nicht angenehm ist, erzähle ich ihm von meinem Erlebnis mit dem alten Rikscha-Fahrer. Nicht ohne Stolz erwähne ich, dass ich es abgelehnt habe, mich wie ein Kolonialherr durch die Hutongs ziehen zu lassen. Du Qi wiegt seinen Kopf und widerspricht leise und stockend: »Nicht wie ein Kolonialherr …, sondern wie ein Tourist, für den der Rikscha-Fahrer genauso wie ein Friseur, der dem Kunden die Haare schneidet, arbeiten darf … Und vielleicht waren Sie für den alten Mann wegen der fehlenden Touristen zu dieser Jahreszeit heute der einzige Kunde! Doch er hat durch Ihre Weigerung nicht einen Yuan für das Abendessen der Familie nach Hause bringen können …«
Ich will entgegnen, dass man sich trotzdem als Mensch nicht von einem anderen Menschen wie von einem Pferd ziehen lassen kann. Aber ich sage nichts, denn ich könnte mir vorstellen, dass auch Du Qi sagt: »Mit der Zeit werden Sie alles verstehen.«
Morgen wird Kuni meine Gespräche mit dem Fahrradfriseur, der Ayi und »meinem« salutierenden Wachjungen dolmetschen. Aber danach hat sie für mich keine Zeit mehr. Ich denke, dass Du Qi, der die Wirklichkeit nicht aus der deutschen Entweder-Oder, sondern aus der chinesischen Sowohl-als-auch-Sicht interpretiert, ein guter Dolmetscher sein könnte, und frage ihn, ob er mir in den nächsten Tagen hilft, das Leben in China zu begreifen, also Gespräche mit Chinesen zu dolmetschen. Er scheint »Ja« sagen zu wollen, schüttelt dann aber den Kopf. Das sei ihm nicht erlaubt. Du Qi hat von der Universität nur die Genehmigung erhalten, mit Touristen auf dem Tian’anmen-Platz Deutsch zu sprechen.
Zum Abschied zeigt er mir stolz den gekauften »Kabale und Liebe«-Band. Brecht gab es nicht. Den habe er bestellt.
Die Wanderarbeiter entwirren die Girlanden. Du Qi stecktdie Lichterketten zusammen. Und ich gehe zur Metro und kann, ohne dass es die Souvenirverkäuferin bemerkt, von oben die auf dem Boden robbenden, rote Fahnen schwenkenden und aus allen Maschinenpistolen schießenden Soldaten am Aufgang zum Gelände der Olympischen Spiele fotografieren.
Wie jeden Montagabend treffen sich Monika und Klaus mit Volleyballspielern in der Deutschen Schule. Ich bespreche inzwischen in der Schulbibliothek mit dem Politiklehrer und der Bibliothekarin Dr. Katja Wissmann die bevorstehende Lesung. Der Politiklehrer meint, es sei wichtig, dass ich den Schülern vor allem über meine Erfahrungen mit der Diktatur in der DDR, über die Mauer, die Verfolgung von Andersdenkenden durch die Staatssicherheit und die Aussiedlung der oppositionellen Künstler aus der DDR erzähle. »Also über deutsche Geschichte.« Die Bibliothekarin, die, wie sie sagt, in der BRD gegen die Stationierung der Pershing-Raketen demonstriert hatte, interessiert, ob wir damals auch in der DDR gegen die sowjetischen SS-20-Mittelstreckenraketen protestiert haben.
Ich sage, dass ich kein Historiker bin. Der Politiklehrer meint, dass es trotzdem gut wäre, den Schülern mitzuteilen, dass die DDR, also ein Teil Deutschlands, früher ein kommunistisches Land gewesen ist. »So wie China.«
»Nein«, sage ich. »Es war ein anderes Land. In der DDR gab es nur besondere Förderschulen für Russisch, Mathe und Musik und eine spezielle Schule für die Kinder sorbischer Nationalität. Aber keine USA-Schule und auch
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