Madame Zhou und der Fahrradfriseur
freie Tage, mein Mann arbeitet immer. An den freien Tage gehe ich, wenn die Sonne scheint, im Park spazieren.«
»Und ein schlechter Tag?«
»Wenn Merry aus der Schule kommt und weint.«
»Was wünschen Sie China für die Zukunft?«
»Oh, China ist so groß! So groß kann ich nicht wünschen. Ich kann nur im Kleinen denken. Beispielsweise, dass es in China zwischen Arm und Reich gerechter zugehen sollte.«
»Und was wünschen Sie sich persönlich?«
»Viel zu viel. Zuallererst, dass mein Traum sich erfüllt: die beste Universität in China für unsere Tochter! Jeden Tag werden in China 30 000 Kinder geboren. Die Konkurrenz, der Kampf um die Bildung, ist sehr groß. Inzwischen bezahlen manche Eltern Geld, damit die noch Ungeborenen in speziellen Kliniken schon im Bauch der Mutter einen Bildungsvorsprung erhalten. Sie werden dort mit klassischer Musik beschallt, hören Fremdsprachen … Mein Mann wünscht sich ein zweites Kind, ich nicht. Selbst wenn ein zweites Kind vom Staat erlaubt würde, unser Geld reicht nur für das Glück eines Kindes.«
Kuni sagt, dass sie unglücklich war, weil sie als Einzelkind ohne Geschwister aufwachsen musste.
»Merry hat hier sehr viele Freundinnen.«
»Aber auf dem Gymnasium in Wuhan wird sie vielleicht fremd und allein sein.«
»Sie hat doch mich«, sagt die Ayi und lacht. Und wäscht die Teetassen ab und setzt sich für ein Foto noch einmal auf das Sofa. Und fragt, wie ich heiße, und erklärt, dass ich nicht mehr Ayi, sondern »Qiongfang« zu ihr sagen soll.
»›Qiongfang‹ heißt auf Chinesisch ›duftende Jade‹«, sagt Kuni.
So unkompliziert wie das Gespräch mit der Ayi war, wird das mit »meinem« salutierenden Wachjungen nicht. Er nickt zwar, als Kuni ihm meine Bitte übersetzt, und lacht, weil ich an meinem ersten Abend in Peking über sein Salutieren erschrocken war und an eine Verwechslung geglaubt hatte. Doch dann erscheint plötzlich ein zweiter Wachhabender, den ich noch nie salutieren sah. Er ist ein wenig älter, größer und stämmiger und besteht darauf, dass ich nicht nur denJungen, sondern auch ihn fotografiere. Danach betont er, dass der Junge während unseres Gespräches seinen Posten nicht verlassen darf. Er hat keine Ablösung für ihn. Also muss der Junge hören, reden, schauen und salutieren.
Ich frage ihn, ob der Ältere sein Vorgesetzter ist.
»Nein, meine Chefs sitzen gegenüber im Management vom Compound. Sie tragen schwarze Anzüge und weiße Hemden.«
Im Compound stehen rund 300 private Häuser auf staatlichem Grund und Boden. Die 60 Angestellten des Managements erledigen für die Hausbesitzer alle nötigen Arbeiten: Straßen kehren, Gras mähen, Müll abfahren, alle Reparaturen in und an den Häusern, Wachdienste. Jeder Hausbesitzer zahlt dafür einen nach der Wohnfläche berechneten Betrag an das private Management-Unternehmen.
»Ich gehöre wie die Handwerker, die Straßenkehrer und die Müllfahrer dem Management«, erklärt der Junge. Er heißt Renliang Liang und kommt aus der Provinz Shanxi.
Für täglich 12 Stunden Wachdienst erhält er im Monat rund 1200 Yuan (120 Euro). Liang, der am Tag weder seinen dicken schwarzen Mantel noch die Pelzmütze, sondern nur eine dünne dunkle Uniform und eine Schirmmütze trägt, arbeitet erst seit zwei Monaten als Wachposten. Er wohnt mit anderen Beschäftigten des Managements in einem Haus im Compound. »Wir schlafen zu acht in einem Zimmer.«
Ich frage, weshalb er von Shanxi nach Peking gegangen ist.
»Weil ich dort nur ein Jahr auf dem Gymnasium bleiben konnte. Dann hatten die Eltern, die mich sehr lieben, kein Geld mehr. Sie konnten sich auch kein Geld borgen, und ich musste die Schule verlassen, um selbst Geld zu verdienen.«
»Willst du irgendwann nach Shanxi zurückgehen?«
»Ja. Wenn ich so viel Geld gespart habe, dass ich …«
»… das Gymnasium beenden kann?«
»Nein. Das ist vorbei. Ich werde mir einen kleinen Laden mieten und dort Bücher oder Schuhe verkaufen.«
Der Wachjunge
Während wir uns unterhalten, hat er ab und an die Hand zur Grußerweisung an die Mütze gelegt. Doch ich bilde mir ein, nicht so akkurat wie bei mir und nicht so lächelnd.
»Musst du alle grüßen, die im Auto vorbeifahren?«
»Nein, nur die Menschen, die hier wohnen.«
»Und woran erkennst du die?«
»An den Autonummern. Ich war beim Kopfrechnen der Beste in unserer Klasse.«
Lachend frage ich ihn nach den Kennzeichen der Autos von Monika und Klaus. Und genauso lachend zuckt er mit den
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