Madame Zhou und der Fahrradfriseur
der Verbotenen Stadt berichten indirekt die Namen der Hallen und Tore und Pavillons. Es gab Hallen, Pavillons und Tore der Kaiserlichen Absolutheit, der Pflege der Persönlichkeit, der Berührung von Himmel und Erde, des Göttlichen Kriegers, der Himmlischen Reinheit, der Tausend Herbste, der Irdischen Ruhe, des Freudvollen Alters, des Kaiserlichen Friedens, der Strahlenden Menschlichkeit, der Literarischen Blüte, des Kulturellen Reichtums, der Ahnenverehrung, der Ruhe und Langlebigkeit, der Herzensbildung, der Göttlichen Stärke, der Militärischen Tapferkeit, des Gesunden Fastens, der Bildung der Gefühle, der Göttlichen Militärischen Begabung …
Allerdings fehlten die Hallen und die Tore des Neides, der Intrige, der Bestechlichkeit, des Verrates und des Hasses. Denn nicht nur nach Lampionfesten und Feuerwerken konnten die aus Edelholz errichteten »goldgeschmückten« Hallen, Tore und Pavillons in Brand geraten, sondern oft legten Beamte und Würdenträger selbst Feuer, um sich bei dem aufwändigen Wiederaufbau ihr Säckel aus der Staatskasse füllen zu können. Wie ähnlich der heutigen Zeit in China! Nur die Strafen fielen drakonischer aus. Die Chinesen zelebrierten sie wie ein lukullisches Fest. Am normalsten, aber auch am wenigsten rituell, war das Grillen in den bronzenen, ansonsten mit Löschwasser gefüllten Kesseln. Oder das Kopfabschlagen. Sehr viel kunstvoller dagegen das »Tranchieren«, bei dem die zu Bestrafenden in drei Tagen mit 1000 millimeterdünnen Schnitten wie eine Pekingente in viele Chargen zerteilt wurden.
Ich gehe am Nordtor über den 60 Meter breiten und 5 Meter tiefen Wassergraben aus dem Kaiserpalast hinaus. An der Uferstraße, von der die Verbotene Stadt wie ein verwunschenes Schloss aussieht, esse ich bei einem Wurstbrater ein gegrilltes, nach Honig schmeckendes Würstchen. Noch während ich kaue, trabt ein graubärtiger Mann, der sich zwischen die Deichseln einer zweirädrigen Rikscha gespannt hat, auf michzu. Auf der Bank des Einsitzers liegt ein imitiertes Löwenfell. Die Rückenlehne ist mit einem alten Militärmantel gepolstert.
Als wäre ich ein leibhaftiger Nachkomme vom letzten chinesischen Kaiser lädt er mich mit einer großen Handbewegung und einer tiefen Verbeugung ein, auf dem Löwenfell Platz zu nehmen. Er zeigt hinüber zu den Hutongs, den rasterförmig angelegten alten Siedlungen. Eine Stunde lang will er mich durch die engen Gassen fahren. Für nur 100 Yuan! Schon der Gedanke daran schaudert mich: Sich, um nicht laufen zu müssen, von einem Menschen wie von einem Kuli, Sklaven oder Diener ziehen zu lassen!
Blick über den Wassergraben der Verbotenen Stadt
Nein! Ich schüttele heftig den Kopf. Der Mann bittet erst, dann schiebt er mich zur Rikscha. Ich verliere jeden Respekt vor seinem Alter – wahrscheinlich ist er jünger als ich – und schreie ihn an. Er zerrt an meiner Jacke. Ich zeige auf seine abgelatschten Stoffschuhe und deute an, dass ich sie gegen meine stabilen Lederschuhe tauschen würde. Doch er begreift es nicht. Da laufe ich sehr schnell in die entgegengesetzte Richtung der Uferstraße. Der alte Mann dreht die Rikscha um und rennt mir hinterher. Nach einem etwa 200 Meter langen Wettlauf bleibe ich stehen, krame 5 Yuan aus der Tasche und gebe sie dem Alten. Er nimmt sie, spuckt darauf, schmeißt sie wütend auf die Erde, brüllt mich, die chinesischen Worte wie eine Melodie hoch und tief ziehend an, und ich atme auf, als er sich umdreht und weitertrabt.
Mit der Metro erreiche ich nach einer halben Stunde das Olympiagelände. 2008 fanden dort, so urteilten damals Mitglieder vom IOC, die bislang größten Spiele statt, die zudem perfekt organisiert waren. »Ein gelungenes Fest des friedlichen Wettkampfes und der Völkerverständigung.«
Schon im Aufgang von der Metro zum Olympiagelände sitzen Souvenirverkäufer. Ich erschrecke, als zu meinen Füßen Soldatenfiguren der Volksbefreiungsarmee, die rote Fahnen tragen und aus ihren MPis schießen, in Gruppenformation auf dem Boden bis vor meine Füße robben. Als ich sie fotografieren will, schaltet die Verkäuferin die Soldaten ab und wirft ein Tuch über sie.
Auf dem Platz gehe ich zuerst durch das einer Jurte ähnelnde Kontroll-Zelt. Ich kenne es schon vom Tian’anmen-Platz. Die Sicherheitsschleuse piepst. Der Uniformierte reagiert nicht.
Der Platz vor dem Stadion ist so groß, dass sich auch hier eine Million Menschen versammeln könnten. Eine breite Allee mit hohen kegelförmig
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