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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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Schultern und sagt: »Manchmal merke ich mir auch nur die Gesichter.«
    »Und spät nachts?«
    »Grüße ich alle!«
    »Was ist für dich ein guter Tag?«
    »Immer der Tag, an dem der Lohn ausgezahlt wird. Oder wenn ein Vorbeifahrender meine Grußerweisung erwidert und ich an seinem Gesicht erkenne, dass er mich damit nicht verspotten will. Und eine gute Nacht ist die, in der ich nicht um zwei Uhr aus dem Wachhäuschen hinauslaufen muss.«
    »Und ein schlechter Tag?«
    »Wenn ich darüber nachdenke, dass ich, der ich lesen, schreiben, rechnen und schon einige englische Wörter kann – hier stehe und …«
    Er beendet den Satz, indem er vor einem der vorbeifahrenden Compound-Manager salutiert.
    Was er China wünscht, hätte ich ihn nicht fragen müssen. Ich kannte seine Antwort. »In China sollten alle Kinder, ohne dass sie dafür Geld bezahlen müssen, aufs Gymnasium und zur Universität gehen können.«
    Und was wünscht er sich?
    Er macht eine lange Pause. Ich versuche zu helfen: »Eine Freundin?«
    »Die auch, aber …«
    Der bisher leise und ein wenig schüchtern redende Liang spricht mit Kuni plötzlich sehr laut und dabei heftig gestikulierend. »Ich wünsche mir, dass gut funktionierende automatische Ein- und Auslassschranken, die man mit Chipkarten öffnen kann, solange ich hier bin, sehr teuer bleiben. So teuer, dass sich das Compound-Management keine anschaffen und uns Wächter abschaffen kann. Automatische Schranken sind nicht nur für Menschen, die ihre Chipkarten vergessen haben, schlecht. Grüßen ist besser und billiger …«
    Ich schenke Liang wie schon vor Tagen noch einen kleinen Thüringer Kräuterschnaps. Er nimmt ihn dieses Mal nicht mit zwei Händen und einer angedeuteten höflichen Verbeugung,sondern wie von einem guten Kumpel nur mit einer Hand und ohne sich zu zieren. Der ältere Wachmann berichtigt ihn, indem er den Schnaps mit zwei Händen umfasst und ihn sich in seine Jackentasche steckt. Notgedrungen muss ich auch mein letztes Fläschchen, das ich für den Friseur reserviert hatte, herausrücken.

    Zum Park, in dem ich den Fahrradfriseur entdeckt habe, weise ich Kuni den Weg. Er ist viel zu klein und zu überschaubar, als dass eine an Größe gewöhnte Pekingerin ihn kennen könnte. Ich dagegen, mich hier heimisch fühlend, grüße wortlos die Chinesen, die sich an Turngeräten quälen, rückwärtslaufen, Bäume umarmen, sich mit den Füßen einen Federball zuspielen, bunte Schwerter schwingen und mit ihren in Käfigen an den Bäumen hängenden Vögeln reden.
    Alles ist wie bei meinem ersten Besuch. Nur auf den einsamen Seitenwegen bietet mir in Begleitung von Kuni keine Frau »Love« an. Und die zwei Fahrradfriseure haben heute Kundschaft. Den älteren der beiden schmückt eine sehr üppige dunkelgraue Haarmähne. Über seinem blauen Anorak trägt er einen weißen Kittel. Er schaut mich fragend an, als ich bei ihm stehenbleibe. Doch als Kuni ihm sagt, dass ich nicht aus Neugierde hier bin, sondern um meine Haare schneiden zu lassen, überredet er den wartenden Chinesen, dass der mir den Vortritt lässt. Sorgfältig steckt er ein graues, bis auf den Boden reichendes Tuch unter meinen Hemdkragen, gibt einen Tropfen Öl auf die Haarschneidemaschine und rückt den Spiegel am Baumstamm gerade. Dann prüft er, ob Kämme, Scheren und Rasiermesser ordentlich nebeneinander auf dem Fahrradtisch liegen und kehrt mit einem Besen aus Reisig die schwarzen Haare des Vorgängers auf der trockenen rissigen Erde des Parks zusammen. Er freut sich, wenn Bekannte einen Ausländer auf seinem Stuhl sehen und grüßen. Kuni erklärt, wie kurz er die Haare schneiden soll.Als er weiß, dass ich aus Deutschland komme, sagt er, dass ich in den über 50 Jahren, in denen er Haare schneidet, sein erster deutscher Kunde bin. Dann zeigt er mir stolz ein Rasiermesser. Es ist älter als er und stammt aus Solingen. Er hat es von seinem Vater geerbt. Und außer dem Solinger Messer besitzt er noch Bleistifte aus Deutschland und eine deutsche Fahrradkette. »Alles gute Qualität.«
    Er schaltet die alte chinesische Haarschneidemaschine an. Sie läuft so langsam, dass ich befürchte, dass sie die Haare herausreißt, statt sie abzuschneiden. Doch die Zähne zwicken nicht. »Ich schärfe sie einzeln mit einer kleinen Feile aus England«, sagt Herr Yin.
    Der 66-Jährige hat schon als Kind Friseur gelernt. »Wir waren zu Hause 16 Kinder. 16 ist eine gute chinesische Zahl! Genau wie die kaiserliche 9.« Deshalb arbeite er hier

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