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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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Alles war aufregend und fremd. Zum Eingewöhnen blieb die Gruppe zwei Tage in Peking. Wenn wir im Bus zu irgendwelchen touristischen Zielen fuhren, schliefen die meisten. Bei mir war die Aufregung hingegen so groß, dass ich – trotz Jetlag – meine Augen und Sinne weit öffnete, um – vollkommen fasziniert – alles bewusst zu erleben.
    Im Wohnheim meiner Studienstadt angekommen, wagte ich die ersten Schritte allein in ungewohnter Umgebung und versuchte mich, so gut wie es ging, häuslich einzurichten. Zuerst kaufte ich bunte Bettwäsche, Grünpflanzen, einen Wasserkocher und Putzzeug. Ich hatte eine Koreanerin als Zimmergenossin. Und das war gut, weil ich gezwungen war, mit ihr Chinesisch zu sprechen, und dadurch ganz automatisch vieles dazulernte und außerdem nach Hause telefonieren konnte, ohne dass sie etwas verstand. So blieb mir immerhin ein wenig Privates und ein kleiner Rückzugsort in der doch immer noch fremden neuen Welt.
    Gestört hat mich in China damals vor allem, dass es immer laut ist und dass man nie allein ist. Ständig hat man unendlich viele Menschen um einen herum. Obwohl vieles durchaus gewöhnungsbedürftig war, habe ich ein sehr spannendes Jahr mit wertvollen Erfahrungen in China verbracht, was mich in dem Wunsch bestärkte, noch mehr über dieses Land erfahren zu wollen.«
    Heute liest sie die wichtigsten chinesischen Zeitungen und sammelt Themen, die das Auswärtige Amt der Bundesrepublik interessieren: Chinas Position bei globalen Fragen und im internationalen Staatengefüge, Chinas politische und wirtschaftliche Entwicklung, gesellschaftspolitische und juristische Fragen, Artikel über verfassungsgemäße und individuelle Rechte und Freiheiten der Chinesen, Themen zu sozialen Problemen wie beispielsweise der mangelhaften Sozialversicherung, der unvollkommenen Gesundheitsfürsorge,der Privilegien der Kader, der Korruption und der Zwangsumsiedlung.
    Robert kommt, schält sich aus den Lederklamotten und streichelt Friederike über das Haar.
    Ich lasse die beiden ihre Tagesneuigkeiten austauschen und frage die schwarz gefärbte Rotblonde, deren Gesprächspartner inzwischen gegangen ist, ob sie oft im »Schillers« sitzt.
    »Nur ein, zwei Mal im Jahr.«
    Sie betreut in einer großen deutschen Firma in Peking »Neueinstellungen« – Ausländer, die noch nie zuvor in China waren.
    »Mit ihnen übe ich die wichtigsten chinesischen Wörter, zeige ihnen die nahegelegenen U-Bahn-Stationen, die Deutsche Botschaft, die deutschen Läden und chinesische Behörden. Und abends gehe ich mit ihnen chinesisch essen.«
    »Informieren Sie die ›Neueinstellungen‹ auch über Probleme und die politische Situation in China?«
    Sie versteht nicht, was ich damit meine.
    »Den Abriss der Hutongs, die Billiglöhne für Wanderarbeiter, die Einschränkung der Meinungsfreiheit …«
    Das mit der Meinungsfreiheit müsste man relativ betrachten, sagt die Rotblondschwarze.«Inzwischen schreiben chinesische Zeitungen auch über Themen wie Korruption und Zwangsumsiedlung. Es gibt in China ein Computerspiel zu kaufen, in dem ein Hausbesitzer in einem Hutong um 6 Uhr geweckt wird und mit seiner einzigen Waffe, den Hauslatschen, gegen das angerückte, mit schwerem Gerät ausgerüstete professionelle Abrisskommando kämpft. Auch Minenunglücke werden in den staatlichen Medien nicht mehr verschwiegen. Für Menschenrechtsfragen gilt aber immer noch die Parteipropaganda: Das wichtigste Menschenrecht ist das Recht, dass ein Land sich zum Wohle seines Volkes weiterentwickelt. Punkt und Schluss. Und was dem Wohl des Volkes nutzt, bestimmt allein die immer noch Marx im Mund führende Kommunistische Partei.«
    »Haben Sie Marx gelesen?«
    Die Frau bestellt ein Bier und sagt, dass sie zwar in Trier, der Geburtsstadt von Marx studiert hat, doch weder das »Kommunistische Manifest« noch das »Kapital« kennt. Aber sie weiß, dass Marx die Arbeiterklasse als führende Kraft der Gesellschaft bezeichnet hat. »Weil China jedoch zu Maos Zeiten ein Land der Bauern war, in dem die Arbeiter noch Seltenheitswert hatten, schrieben die kommunistischen Führer in China den Marxismus einfach um: die führende Rolle erhielt die Bauernschaft.«
    Ich entgegne mehr fragend als behauptend: »Doch dass inzwischen die führende Rolle in der Partei die neuen chinesischen Kapitalisten erhalten haben, um, wie die Partei sagt, den Sozialismus zum Wohle des Volkes in China durchzusetzen, das kann der alte Marx doch so nicht gemeint haben? Ist die KP

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