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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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Aufenthalt in der BRD, anschließend Leben und künstlerische Arbeit in Peking. Ausstellungen im Kunstmuseum Gelsenkirchen, in Schaffhausen (Schweiz), in Chicago, im Park von Sanssouci, in Vancouver, in Hongkong, Dortmund, Peking …
    Mich interessiert, was in keinem Katalog steht.
    Er legt ein beschwingtes Violin-Konzert von Mozart auf.
    »Mein Großvater besaß im alten China ein großes Mehrfamilienhaus und wurde 1949 nach der Gründung der Volksrepublik enteignet. Danach arbeitete er in einer Schnapsfabrik. Damals hatte der chinesische Reisschnaps noch 65 Prozent. Heute nur noch schwache 56. Meine Eltern waren Schauspieleran der Peking-Oper. Man schickte sie während der Kulturrevolution in die Provinz, damit sie den Bauern sozialistische Kultur bringen. Ich blieb bei den Großeltern.«
    1967 kam Wang Shugang in die Schule. Er malte gern und liebte Sport, unter anderem Basketball. Für den Leistungssport (»In meiner Klasse am Sportgymnasium lernte damals auch die heutige Nationaltrainerin der Volleyballmannschaft.«) war er mit 1,72 Metern allerdings zu klein.
    »Und die Farben zum Malen kosteten zu viel Geld. Einmal gebraucht, waren sie schon verbraucht. Da begann ich zu modellieren. Der Großvater bezahlte mir den Ton, aus dem ich nach jedem Versuch wieder neue Figuren formen konnte.«
    1980 bewarb er sich an der Pekinger Kunsthochschule.
    Er war einer von Tausenden. Sehr viele, die damals in Peking studieren wollten, hatten sich jahrelang nicht bewerben können. »Unser Studienjahr war das erste nach der Kulturrevolution.«
    Von den über tausend Bewerbern für die Studienrichtung Malerei und Bildhauerei wählte die Aufnahmekommission 60 aus, die an den Prüfungen teilnehmen durften.
    »Wir wurden unter anderem in Kulturwissenschaft, Marxismus-Leninismus, Literatur, Englisch, im Zeichnen einer Gruppe und in Porträtmalerei geprüft. Ich malte sozialistische Bäuerinnen. 7 Kandidaten bestanden schließlich die Prüfung. Ich war einer von ihnen und durfte 5 Jahre bei sehr erfahrenen, älteren Kunstprofessoren studieren. Sie hatten ihr Wissen, bevor sie von Mao Zedong, wie meine Eltern, in die Provinz geschickt worden waren, in Paris oder an der Repin-Akademie in Moskau erworben.«
    Nach dem Studium restaurierte Wang Shugang als Mitarbeiter des Pekinger Büros für Stadtplanung auch von Kulturrevolutionären zerstörte Skulpturen. »Den Schwan im Ritan-Park und den Kung-Fu-Kämpfer im Arbeiter-Stadion. Aber ich wollte in Peking nicht als Angestellter, sondern alsfreischaffender Künstler arbeiten.« Er stockt und sagt leise: »Das heißt, bis zum Tag des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens, das ich miterleben musste.«
    Er schaltet Mozart aus und legt verschiedene Interpretationen der Goldberg-Variationen in den CD-Player und erklärt mir dazu, dass er die Solisten an ihrer unterschiedlichen Spielweise erkennt. »Manche gehen sehr schnell und leicht zu Werke, andere langsamer und gefühlvoller, hören Sie einmal genau hin …«
    Der Klang füllt das große, sehr einfach und funktional gestaltete Wohnzimmer aus. Wir schweigen und hören zu.
    Erst nach einer langen Pause erzählt Wang Shugang fast stenogrammartig seine weitere Lebensgeschichte.
    »Fünf Tage nach dem Massaker verließ ich China mit meiner Frau und bin nach Deutschland gegangen. Zuerst habe ich dort, um leben zu können, Kartoffeln sortiert … Später stand ich vor dem Museum Ludwig der Modernen Kunst in Köln. Ich verharrte am Eingang wie vor einem Heiligtum und wagte lange nicht, es zu betreten. Als ich nach Stunden wieder herauskam, fühlte ich mich absolut leer. In mir war nur noch ein Gedanke: Wang Shugang, du bist unnütz mit deiner Kunst!«
    Er versucht es mir zu erklären. »Wahrscheinlich entsteht bei einem Schriftsteller solch ein Gefühl der Leere erst nach und nach. Er liest ein Buch nach dem anderen, und irgendwann stellt er fest: Es ist alles schon gesagt und alles schon aufgeschrieben. Wozu soll ich dann noch dichten? Mich dagegen traf die Erkenntnis, dass in der Kunst alles schon ausprobiert ist, nach dem Gang durch das Museum mit einen Schlag.«
    Danach malte er nur noch kleine Bilder und formte kleine Plastiken. Er begriff damals, dass er die europäische und amerikanische Moderne nicht kopieren wollte und konnte, und als er im Jahr 2000 mit Julia – seine chinesische Frau hatte ihn 7 Jahre zuvor verlassen – nach Peking zurückging, gestaltete er Figurengruppen mit chinesischem Traditionsbezug:

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