Madame Zhou und der Fahrradfriseur
den Kanonen.«
Der Galerist entschuldigt sich und fragt, ob uns sein persönlicher Werdegang, in dem sich die Entwicklung Chinas spiegelt, interessieren würde oder ob wir mehr über die Entwicklung der »Kunstzone 798« wissen möchten. »Obwohl – beide ähneln sich«, relativiert er.
Er, Doktor des Marxismus, der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, das Diktat des Geldes und die Profitsucht abschaffen wollte, sucht heute reiche Profiteure und verkauft ihnen Bilder für über 100 000 Yuan. Und aus dem Kulturrefugium, das vor 10 Jahren unabhängige Künstler gründeten, die sich dort autonom verwirklichen wollten, ist inzwischen ein Tempel des Kunstkommerzes gemacht worden. »Markenfirmen wie ›Dior‹ und ›Sony‹ und die teuersten Galerien der Welt haben im ›798‹ ihr gewinnbringendes Domizil aufgeschlagen. Die Miete ist von 1,50 Euro pro Quadratmeter im Monat auf über 10 Euro gestiegen. So viel kann kaum ein chinesischer Künstler bezahlen. Über 60 Ateliers und Galerien sind in den vergangenen Jahren wieder geschlossen worden. Auch ein Gründer der ›Kunstzone 798‹, Huong Rui, hat aus Protest gegen die Vermarktung und die hohen Mieten die frühere Kulturoase verlassen.«
Seine Doktorarbeit schrieb Rong Jian über die Aktualität der marxistischen Lehren in China.
»Ich meinte das mit der aktuellen Lebendigkeit sehr ernstund gehörte als 33-Jähriger zu den protestierenden Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Bis zum Schluss, als die Panzer kamen.«
Nach 64 Stunden Haft und Verhör wurde er zwar entlassen, aber danach blieben dem Doktor der Philosophie in China alle Türen von Hochschulen und Universitäten verschlossen. »Notgedrungen ging ich nach Hainan, wo Deng Xiaoping Sonderwirtschaftszonen eingerichtet, marktwirtschaftliche Prinzipien und das Diktat des Geldes wieder eingeführt hatte.« Der Philosoph Rong Jian handelte dort mit Immobilien. Als dieser Handel genügend Profit abgeworfen hatte, kaufte er Gemälde von chinesischen Künstlern und mietete sich in der »Kunstzone 798« als Galerist ein. Damals hätten sich nur wenig Chinesen für zeitgenössische Kunst interessiert.
Aber zum »Tag der offenen Tür« im Jahr 2003 besuchten schon rund 1000 Besucher die Ausstellungen. Und inzwischen sind es täglich mehrere Tausend. Chinesische Familien verbringen in der Kunst- und Kommerzzone, in der es inzwischen auch Mode-, Möbel- und Spezialitätenhäuser gibt, ihre freien Wochenenden, und Touristen werden für 70 Euro aus ihren Hotels für ein paar Stunden in die »Kunstzone« gekarrt.
»Das ›798‹ ist für den internationalen Kunsthandel heute eine der ersten Adressen. Und wahrscheinlich hat es sich durch seine Ausstellungen, Modeschauen, internationalen Restaurants, Designergeschäfte und Galerien zu einer der interessantesten und profitabelsten Kunstzonen der Welt entwickelt.« Für Politiker, die China besuchen, gehört die »Kunstzone 798« oft schon zum Pflichtprogramm. Auch Jacques Chirac, José Manuel Barroso, Nicolas Sarkozy, IOC-Präsident Jacques Rogge und Gerhard Schröder waren dort.
Rong Jian hat Deutschland schon zwei Mal besucht und schätzt die deutsche Philosophie. Vor allem Hegel. Er zitiert: »Der Staat dagegen kennt keine selbständigen Individuen, von denen jedes nur sein eigenes Wohl im Auge hat und verfolgt. ImStaat ist das Ganze Zweck und das Einzelne Mittel.« Und: »Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang.«
Dann will er wissen, ob die Politiker und Historiker der beiden deutschen Staaten nach der Wiedervereinigung auch zusammenfassende, gemeinsame Kernsätze für die Geschichte Deutschlands aufgestellt haben.
»Wahrscheinlich war das, bedingt durch die zwei unterschiedlichen Gesellschaftssysteme, sehr viel schwerer als für die chinesische Geschichte. 60 Jahre China, das sind 30 Jahre strenger Sozialismus, 20 Jahre Liberalisierung und 10 Jahre Weltwirtschaftsmarkt. Für China sind in dieser Zeit drei Kernsätze wichtig. Erstens: Nur wenn es Sozialismus gibt, gibt es China. Das war bis zum 4. Juni 1989 der Fall. Danach: Es wird nur noch Sozialismus auf der Welt sein, wenn es China gibt. Und heute gilt: Es wird den Kapitalismus auf der Welt nur geben, wenn es China gibt. Wenn die Chinesen nichts mehr kaufen, bricht der gesamte globale kapitalistische Markt zusammen.«
Nach dem Essen gehen wir zu seiner Galerie. Draußen ist es kalt. An einigen
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