Madame Zhou und der Fahrradfriseur
der Bar zeigend, schreit der Mann schließlich: »Aber manche leben doch sehr gern und sehr gut in dieser Diktatur!«
Als er mich, einen Neuen, sieht, lässt er den Anzugsmenschen stehen und umarmt mich, nachdem ich ihm erzählt habe, dass ich in Lohmen in der Sächsischen Schweiz gelebt habe. »Und ich bin ein Dohnaer – nur 15 km von Lohmen entfernt. Darauf musste einen ausgeben!«
Im Fernsehen läuft die Übertragung der Schwimmwettbewerbe bei den Asien-Spielen in Guangzhou. (Für die Übertragung der Spiele wurde mit über 600 Metern der höchste Fernsehturm der Welt gebaut.) In der aktuellen Nationenwertung steht Gastgeber China vor Japan, Südkorea und Nordkorea an erster Stelle. (Einen Tag später werden sich die Koreaner nach einem Seemanöver der Südkoreaner und 10 Salven der Nordkoreaner auf eine kleine südkoreanische Fischerinsel mit Kanonen beschießen.)
Jedes Mal, wenn ein volksdemokratischer Nordkoreaner das Sprungbrett im Schwimmstadion von Guangzhou betritt, hebt der Dohnaer beide Arme in die Höhe und schreit: »Los, zeig es denen!« Und wenn es nur eine verunglückte Wasserbombe wird, stöhnt er: »Ihr hättet bei uns in der DDR trainieren sollen, da wäre auch aus euch was geworden!«
Eine sehr pummelige junge Frau mit Motorradhelm in der Hand wird von allen in der Bar mit lautem »Hallo« begrüßt. Sie schält sich sehr schnell aus den dicken Lederklamotten und verwandelt sich dabei in ein sehr kleines zierliches Persönchen. Die lustigen Augen und die kurzen dunklen Haare passen zu ihr. Friederike fährt jeden Tag mit dem Motorrad zur Arbeit in die Presseabteilung der deutschen Botschaft. Und ihr Freund Robert hat seine erste Fahrt von Deutschland nach Peking im Motorradsattel zurückgelegt.
Als ich Friederike von meinen ersten »Interviews« in China, dem Gespräch mit den zwei Bedienerinnen, dem Koch und dem Galeristen erzähle, meint sie, die täglich die offizielle chinesische Presse auswertet, dass solche »Alltagsgespräche« durchaus aufschlussreicher sein können als staatlicheMedienberichte. »Doch das zur Zeit sicherlich Interessanteste und Spannendste in China sind verschlüsselte Texte der manchmal oppositionellen jungen Blogger im Internet.«
Wenn ich möchte, könnte sie mir bei einem unserer nächsten Treffen solche Texte zeigen.
Und ob ich möchte!
Vom »Schillers« fahren wir in die »Deutsche Schule«, einen großen verzweigten Neubau des Architekten Meinhard von Gerkan, in dem 500 Schüler von der 1. bis zur 12. Klasse unterrichtet werden. Die Lehrer sprechen mit ihnen Englisch und Deutsch. (Chinesisch kann man leider nur in einer außerschulischen Arbeitsgemeinschaft lernen, sagte mir später die Bibliothekarin.)
Auf einer langen, weichen Tartanbahn gehen wir, weil der Haupteingang schon verschlossen ist, zur Turnhalle. Auch sie kann sich in Größe und Ausstattung mit jeder Sporthalle eines Gymnasiums in Deutschland messen. Klaus und Monika treffen sich hier regelmäßig einmal in der Woche zum Volleyball.
»Wenn nicht, renne ich die 12 Stockwerke zu meinem Büro hinauf«, behauptet Klaus. Auch die Spieler kennen sich alle. Es sind Lehrer und Schüler und deren Bekannte. Nach dem Volleyball gemeinsames Essen im separaten Zimmer eines einfachen chinesischen Restaurants. Ich verzichte darauf, die lukullischen Genüsse aufzuzählen.
Wir bleiben nicht lange, denn am Morgen wollen Klaus und ich schon um 4.30 Uhr in das Wälzlagerwerk nach Xingtai fahren.
SPICKZETTEL (5)
N. N., Berufswunsch: Managerin
Ich möchte in Peking arbeiten, weil ich hier seit 6 Jahren lebe und begriffen habe, dass man in China auch schnell viel Geld verdienen kann.
Ein guter Tag ist, wenn meine Mutter von ihrem chinesischen Freund besucht wird und sie versucht, Teigtaschen (jiaozi) oder ein anderes chinesisches Essen für ihn zu kochen. Ich muss dann, wenn es ihr nicht gelingt, zum chinesischen Straßenverkäufer laufen und Teigtaschen bei ihm holen.
Für meine Zukunft wünsche ich, dass ich eine glückliche Familie haben werde. Alles andere ist heute unwichtig. Die Welt kann ich nicht ändern, aber das Leben in meiner Familie.
China wünsche ich, dass es das viele Geld, das das Land durch seinen Export verdient, für den Bau von Schulen und Krankenhäusern ausgibt. Was ich in Deutschland Chinesisches vermisse und in China Deutsches? Weil ich an Deutschland nur Urlaubs- und Kindheitserinnerungen habe, aber in Peking den Alltag lebe, würde ich sagen: In Peking und drum herum fehlt mir
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