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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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Stamm zu berühren.
    »Wer das schafft, ohne die Augen zu öffnen, dem schenkt die Gottheit Glück«, erklärt mir »007«.
    »Glauben Sie daran?«, frage ich.
    »Es ist alles nur ein Spiel, genau wie das Leben. Und Glück ist für jeden doch ein anderes Glück.«
    »007« heißt Xue Ying.
    Xue Ying – die im Tempel beklagt hatte, dass die Geheimnisse der Herstellung von Naturfarben unwiederbringlich verloren sind – hat an der Universität Malerei studiert. »Tuschzeichnen und außerdem noch Design. Doch von Malerei konnte ich hier nicht leben. Aber ohne dass ich zum Stein gelaufen bin, hatte ich göttliches Glück: Ich erhielt diesen Arbeitsplatz als Führerin im Dai-Tempel.«
    Sie nimmt an, dass im »deutschen Kulturland« alle studierten Maler von ihrer Kunst leben können.
    »Manche sind auch Taxifahrer«, sage ich.

    Obwohl der Chef noch unterwegs ist, hat uns der Fahrer des Unternehmers Xuan Jiaguo am Dai-Tempel abgeholt und kutschiert nun so gemächlich durch die Stadt, dass die Autos hinter uns hupen. Was ihn aber nicht daran hindert, zum zweiten Mal am Tai Shan vorbei zu kurven. Am Fuß des Heiligen Berges wachsen stachlige Sträucher und vereinzelte Kiefern. Ein Bild, das in der Sonne einer zarten chinesischen Tuschzeichnung ähnelt. Nach jeweils 10 Minuten ruft der Fahrer im Betrieb an und drosselt weiter das Tempo, bis wir zum Ärger aller anderen die Stadt fast nur noch im Schritttempo umrunden. Als wir erneut am Tai Shan vorbeikommen, tragen vier Männer auf ihren Schultern an Stangen Kessel mit heiligem Wasser vom Berg herunter. Der Jüngste geht sehr aufrecht, die drei alten Männer mit gekrümmtem Rücken.
    Nach dem letzten Anruf gibt der Fahrer Gas, überholt nun seinerseits fluchend und hupend die vor ihm fahrenden LKW und rast mit 100 km/h aus der Stadt hinaus. Wir kommen an einem Wohnviertel vorbei, in dem mehrere Hundert völlig gleichförmige Häuser so dicht aneinanderstehen, dass ein Nachbar, der sich aus dem Fenster lehnt, dem anderen die Hand reichen kann.
    »Wie in den Städten, die früher für die Beamten des Kaisers errichtet worden sind«, sagt der Fahrer.
    Die neue Halle des Röhrenbetriebes von Herrn Xuan Jiaguo steht neben der »Beamtenstadt«. Der Unternehmer erwartet uns vor der Tür des Direktionsgebäudes. Jeder Besucher, der dort hineingeht, sieht zuerst eine vielleicht 5 Meter lange und 2 Meter hohe Kalligraphie. Kuni kann mir die Schriftzeichen des Künstlers nur nach Erklärung von Herrn Xuan Jiaguo übersetzen. Quelle. Fluss. Wohlstand. Tai Shan. Kraft. Tapferkeit … Also: »Der Fluss des Betriebes soll immer ohne Hemmnisse fließen können und die Quelle des Wohlstandes durch die Stärke und Tapferkeit der Menschen wie die Quelle des Heiligen Berges nie versiegen.«

    Kuni im Röhrenwerk
    In der Werkhalle, in der Arbeiter über 2 Meter dicke Stahlrohre zusammenschweißen und dabei wie Drachen Funkenwolken versprühen, ist die Losung weniger kunstvoll auf ein rotes Transparent geschrieben. »100 Prozent Qualität heute sind 100 Prozent mehr Wohlstand morgen.«
    Ich frage, wie viel ein Arbeiter im Betrieb verdient.
    »Etwa 2500 Yuan im Monat«, sagt der Unternehmer. Und Herr Wu Ming dreht sich zu mir um und spottet: »Zwei alte ehemalige Kommunisten gehen mit einem jungen chinesischen Kapitalisten durch den Betrieb und wollen wissen, was die Arbeiterklasse verdient.«
    Im großen Arbeitszimmer von Herrn Xuan Jiaguo steht wie im Hotelrestaurant – nur viel kleiner – ein Aquarium, in dem die goldenen (»der Farbe des Kaisers«) Kinder der Drachen schwimmen. Um einen kleinen Tisch sind niedrige Hocker gruppiert. Auf einem sitzt der Heiler Liu Junbo, der heute kein auberginefarbenes Sakko, sondern nur einen dunkelblauen Pullover trägt. Wir sollen Platz nehmen und uns ausruhen, sagt der Unternehmer.
    Herr Xuan Jiaguo, Herr Liu Junbo und Herr Wu Ming zündensich Zigarren an und genießen schweigend. Noch bevor er zu Ende geraucht hat, setzt Xuan Jiaguo einen Kessel mit Wasser auf die Kochplatte. Ich hoffe, dass wir uns beim Tee unterhalten können, und ich den Unternehmer nach seinem Betrieb, Management, Marktwirtschaft – »und den Millionen«, erinnert Kuni – fragen kann. Doch die Vorbereitung zum Teetrinken lässt mich daran zweifeln, denn der Unternehmer und der Heiler stellen nicht nur eine Teekanne und fünf Gläser auf den Tisch, sondern viele winzige Schälchen aus Glas und Porzellan, dazu Tassen, kleine Kannen und dicke oder zerbrechlich wirkende dünne

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