Madame Zhou und der Fahrradfriseur
noch eine rote Fahne hängt.
Ich sage Kuni, dass man als Betrachter den Schmerz der Bewohner fühlen kann, wenn man die Geschichte eines Hauses kennt. Die Zahl »5000 abgerissene Häuser« bleibt dagegen eine nicht nachempfindbare Abstraktion.
Kuni meint, dass es ökonomisch und psychologisch besser ist, die Wohngebiete auf einmal abzureißen. »Bei uns gibt es praktisch kein Recht des Einzelnen, um gegen die staatlicheAbrissentscheidung zu klagen. Auch weil Grund und Boden dem Staat gehören. In Europa dagegen kann jeder Hauseigentümer gegen einen Abriss klagen. Die Prozesse verzögern den Abriss und den Neubau vielleicht um Jahre. Weil das hier nicht möglich ist, prangern westliche Länder China wegen fehlender Menschenrechte an. Aber machen das die Politiker dort wirklich nur, weil sie Gut-Menschen sind? Politiker und Journalisten, die sich zwar nicht um das Schicksal der kleinen Leute in ihrem eigenen Land, aber um das Wohlergehen der chinesischen Bauern und Wanderarbeiter kümmern? Hätte man in China die Möglichkeit, individuell mit Erfolg gegen den Abriss zu klagen, würde sich das Tempo des Aufbaus zum Schaden des Volkswohlstandes verlangsamen. China würde Jahrzehnte brauchen, um kilometerweise Altes abzureißen und Neues zu errichten. Und vielleicht fordern westliche Politiker nicht aus unübertrefflicher Fürsorge für die Chinesen Individualrechte, sondern weil sie wissen, dass sie nur dadurch die wirtschaftliche Konkurrenz und den Aufstieg Chinas in der Weltwirtschaft verlangsamen können?«
Endlich fahren wir an Bäumen vorbei. Zwar stehen sie in Reih und Glied, und alle Stämme sind weiß gestrichen, aber hinter ihnen sehe ich unbebautes Gelände und abgeerntete Felder. Als auf einem der Felder die Grabstelle eines Bauern zu sehen ist, sagt Kuni: »Mein Papa hat mich gebeten, dass er nach dem Tod verbrannt wird. Und seine Asche soll ich im Park unter dem Baum vergraben, wo er mit meiner Mama jeden Tag zweimal tanzt. Zweimal tanzen sie jeden Tag im Park. Auch im Winter. Und immer unter demselben Baum.«
Ich muss nur ein wenig nachfragen, bis Kuni erzählt, dass ihr Vater Lehrer war und ihr deshalb, schon bevor sie zur Schule ging, das Lesen und Schreiben beigebracht hat. »Ich las sehr viel, denn meine Großeltern, die mir, wie es in China üblich ist, Märchen und Geschichten erzählt hatten, sind zeitig gestorben. Mit 5 Jahren las ich auch die Märchen der GebrüderGrimm. Die Figuren waren mir fremd, aber ich liebte diese Märchen, in denen immer die Guten siegten. Vielleicht war das Lesen auch ein Ersatz, weil ich weder eine Schwester noch einen Bruder habe. Meine Eltern hätten das Gesetz zur Ein-Kind-Ehe damals noch nicht befolgen müssen. Ich bin 1978 geboren, und das Gesetz war erst in Vorbereitung. Doch meine Eltern waren beide Kommunisten und wollten schon im Voraus als Vorbild handeln. Mein Papa arbeitete als Lehrer auch in der staatlichen Verwaltung, und meine Mama war in einem staatlichen Zigarettenladen beschäftigt. Das Geschäft blieb noch sehr lange staatlich. Zigaretten und Alkohol wurden in China erst spät für den privaten Handel freigegeben. Heute sind von den drei Drogen Zigaretten, Schnaps und Medien nur die Medien noch nicht privatisiert.«
Im Kindergarten ist sie, »ein trauriges Einzelkind«, glücklich gewesen. »Die Erzieherinnen waren, vielleicht weil ich keine Geschwister hatte, besonders lieb zu mir. Ich erinnere mich noch an die vielen Lieder, die wir gesungen haben. Lieder vom Meer, von Blumen, der Sonne und den Vögeln. Wir haben auch Volkstänze gelernt. In den Trachten der anderen chinesischen Nationalitäten, der Mongolen oder der Uiguren, tanzten wir auf der Straße. Durch Puppenspiele lehrte man uns Tugenden wie Achtung vor den Eltern, Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit und Fleiß. Auch später in der Grundschule brachte man uns diese Regeln bei. Die besten Schüler wurden mit dem roten Pionierhalstuch ausgezeichnet. Ich erhielt es als eine der wenigen schon in der ersten Klasse. Wir haben damals auch alte, kranke Menschen besucht und bei ihnen sauber gemacht. Ich habe das sehr gern getan, denn sie waren oft sehr einsam.«
Schon als Kind wollte sie Reiseleiterin werden. »Im Fernsehen lief eine Serie, in der die Sehenswürdigkeiten anderer Länder – auch in Amerika und Europa – gezeigt wurden. Und die Moderatorin, die diese Länder vorstellen durfte, war eine chinesische Reiseleiterin. Doch dann kam alles anders.Ich hatte auf dem Gymnasium einen sehr guten
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