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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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und gerechten Klassenlehrer. Aber wir waren fast 60 Schüler in einer Klasse, und er konnte nicht mit allen deren geheime Berufswünsche besprechen. Und als wir vor der zweiten Stufe des Gymnasiums wählen mussten, ob wir später ein schöngeistiges oder ein mathematisches Fach studieren wollen, riet er mir zu Physik. In dieser Fachrichtung gab es viele freie Studienplätze. Ich sagte ja, denn ich wollte unbedingt studieren, damit sich die Anstrengung im Gymnasium auch gelohnt hat. Ich bin früh um 6.30 Uhr von zu Hause weggefahren und kam abends um 22 Uhr zurück. Und außerdem, das war das Wichtigste: Ich wollte meine Eltern nicht enttäuschen. Sie hatten sich sogar von Bekannten Geld leihen müssen, damit ich diese Schule besuchen konnte …
    Ich gehe jetzt oft zur Maniküre. Die junge Frau, die meine Nägel pflegt, ist sehr klug. Sie erzählte mir, dass sie – auch eine Wanderarbeiterin, ein Mädchen vom Dorf – in der Schule nur gute Noten hatte. Aber die Eltern besaßen kein Geld, um ihr den Besuch des Gymnasiums zu ermöglichen. Drei Tage lag sie auf dem Bett und aß nichts und trank nichts, sie weinte nur. Aber auch das half nicht.«
    Kuni wohnte mit 7 Mädchen in einem Zimmer des Studentenwohnheimes. »Aber dort konnte ich zum ersten Mal im Leben machen, was ich wollte. Ich war frei, konnte frei atmen. Die Eltern haben mir immer gesagt: ›Sei nie ein Frosch! Ein Frosch sieht, wenn er unten im Brunnen sitzt, den Himmel nur als kleinen Lichtpunkt!‹ Also wollte ich nie ein Frosch, sondern ein Vogel sein.«
    Und als ein hoch in der Luft fliegender Vogel träumte sie davon, nach ihrer Programmierer-Ausbildung in Deutschland noch die deutsche Sprache zu studieren. »Vielleicht, weil ich als Kind die Märchen der Gebrüder Grimm geliebt hatte. Consultingfirmen vermittelten damals für uns Chinesen Studienplätze im Ausland. Für 1000 Euro versprachen sie Studienmöglichkeitenin Europa. Mit dem von der Consultingfirma ausgefüllten Antrag ging ich zur Deutschen Botschaft. Dort schickte man mich wieder nach Hause, denn der Antrag war leider nicht von einer deutschen Universität genehmigt. Doch ich wollte die Wahrheit nicht begreifen und bezahlte vom letzten Geld meiner Eltern noch einmal 1000 Euro. Die Consultingfirma strich das Geld wieder ein, ohne mir einen Studienplatz in Deutschland zu vermitteln. Da wusste ich: Kuni, du bist nicht nur eine Pechmarie, sondern auch eine sehr dumme Gans.«
    Die Glitzerwelt der Hochhäuser
    Sie ging zu Bekannten nach Peking. »Die hatten schon zwei Mädchen, aber sie sorgten für mich wie für eine dritte Tochter. Ich konnte in Peking Deutsch lernen, und als ich 23 Jahre alt war, erfüllte sich mein Kindheitstraum: Ich bekam eine Arbeit als Reiseleiterin. Meine erste Reisegruppe waren 19 ältere Menschen aus Deutschland. Sie kümmerten sich mehr um mich, als dass ich mich um sie kümmern konnte. Weil ich noch wie ein Kind aussah, bemutterten sie mich unterwegs! So wurde ich doch noch eine Goldmarie.«
    Als der Zug die Außenbezirke von Peking erreicht, meint sie, dass sie genug geredet hat.
    Ich entgegne, dass die letzten 9 Jahre ihres Lebens fehlen. Sie schüttelt den Kopf. »Ich möchte mich vor der Rückkehr in meine Wohnung noch ein wenig besinnen. Ich weiß nicht, wie es meinem Kater Chow-Chow geht, der mich wahrscheinlich 5 Tage schrecklich vermisst hat.«
    Ich frage nicht nach einem Freund, nach einem Mann. Aber ich erkundige mich, ob sie vielleicht den Dichter Sang Hengchang, meinen »Jüngeren Bruder«, gefragt hat, ob er verheiratet ist und Kinder hat.
    Nein, auch sie hat ihm diese Frage nicht gestellt. Doch in einem seiner »Gedichte vom Gelben Fluss« wendet er sich wahrscheinlich an eine Frau.

    Träume aufbauen

    du bist in China
    ich bin in Deutschland
    dazwischen trennt uns, über Kontinenten
    Europa und Asien, eine Milchstraße

    wir haben vereinbart
    zuvor, in der Nacht
    baust du an jenem Ufer Träume auf,
    bau ich an diesem Ufer Träume auf
    ich weiß nicht warum
    nie, niemals
    unsere Träume zusammenpassen
    da muss der Zeitwechsel Streiche machen

    fließt die sinkende Sonne über meinen Kopf
    verwandelt sie sich unter deinen Füßen in Morgensonne
    Im Mai 1989 in Münster 2

    Uns bleibt noch eine halbe Stunde bis zur Ankunft in Peking, und ich bitte Kuni, dass auch sie mir meine Standardfragen nach ihrem guten und ihrem schlechten Tag und ihren Wünschen beantwortet.
    Als sie auch das ablehnt, schließen wir einen Kompromiss. Ich verschone sie heute mit

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