Madame Zhou und der Fahrradfriseur
Gegner des Vietnam-Krieges, später Mitglied des SDS, Mao-Anhänger und Marxist. 1974 ging er, nachdem er wegen »Landfriedensbruch« in erster Instanz zu einer Gefängnisstrafe mit Bewährung verurteilt worden war, nach China. Heute fährt der »Altkommunist« nicht nur einen Mercedes, sondern ist auch Gründer und Besitzer eines Medienunternehmens, das Filme in China produziert und internationale Serien vermittelt. Verheiratet ist er mit der bekannten chinesischen Schauspielerin Shen Danping. Der Vortrag von Uwe Kräuter kostet 50 Yuan. Es ist ein Freigetränk dabei, sagt Klaus.
Aber heute, was mache ich heute? Vielleicht sollte ich Kuni anrufen und hoffen, dass sie sich nach dem Wiedersehen für kurze Zeit von ihrem Chow-Chow trennen kann und mit mir zum Fahrradfriseur geht oder mir hilft, mit der Ayi von Klaus zu sprechen.
Ich frage Klaus, ob »seine« Ayi verheiratet ist und Kinder hat. Das weiß er nicht. Auch nach ihrer Wohnung hat er sie noch nie gefragt.
»Doch wahrscheinlich wohnt sie irgendwo in der Nähe. Sie kommt immer mit dem Fahrrad …«
Als auch Kuni sich nicht meldet, mache ich das, was ich nicht gerne tue: durch die Straßenschluchten von Peking laufen. Klaus hat mir erzählt, dass sich nur eine Viertelstunde von seinem Büro entfernt das alte Botschaftsgelände von Peking über viele Quadratkilometer erstreckt.
»In der Nähe findest du auch ›Die Anlegestelle‹ eines der Restaurants von Steffen Schindler. Auf dem Rückweg kommst du an dem Café vorbei, in dem, wenn er dich nicht verscheißert hat, der Russe Igor Kusnezow sitzt.«
»Die Anlegestelle« suche ich vergebens, aber das Botschaftsviertel ist nicht zu übersehen. Zuerst entdecke ich an der letzten der streng quadratisch angeordneten schmalen Straßen die Botschaften von Nepal und Saudi-Arabien. Hier sind die Länder weder nach Größe und Bedeutung noch nach Gesellschaftssystemen und auch nicht nach Erdteilen geordnet. Die Botschaft der Schweiz steht neben der Mexikos, dann folgt die Dänemarks …
Grundverschieden sind auch die Umzäunungen der kleinen Villen, der Paläste und der modernen neuen Botschaftsgebäude. Vor manchen befindet sich nur der üblicherweise drei Meter hohe Zaun oder eine Mauer. Vor manchen sehe ich Zaun und dahinter Stacheldraht, oder Zaun und Mauer und Stacheldraht darüber.
Neben jeder Botschaft steht ein Wachhäuschen, in dem sich ein Soldat versteckt, der, sobald ein Ausländer näher kommt, blitzartig nach draußen läuft, Haltung annimmt und sehr zackig grüßt – viel militärischer als »mein Wachjunge«, den ich nach der Rückkehr aus Jinan noch nicht wieder gesehen habe.Bevor ich wegfuhr, hatte ich ihm ein Fläschchen Kräuterlikör und eine kleine Thüringer Wurst geschenkt. Er versuchte, sich mit ein paar englischen Worten zu bedanken und mir begreiflich zu machen, dass er Englisch in der Schule gelernt hat, doch plötzlich sei alles zu Ende gewesen: »Finish.«
Das Café von Igor Kusnezow – seine Birken stehen wirklich in der Liangmaqiao Lu – finde ich auf dem Rückweg vom Botschaftsviertel zum Tower, in dem Klaus arbeitet. Es befindet sich in einer Ladenstraße zwischen Freiflächen, an denen Bettler stehen. Igor Kusnezow sitzt allein an einem Tisch und trinkt Bier. Als er mich erkennt, steht er auf, küsst mich nach russischer Art auf beide Wangen und bestellt bei der Bedienerin, »weil Wodka in China gepanscht und dadurch gesundheitsschädlich ist«, chinesischen Reisschnaps. Während wir auf den Schnaps warten und uns außer der Freude über das Wiedersehen nicht viel zu sagen haben, schaue ich ihn genauer an. Igor Kusnezow hat einen kantig geformten Schädel, der noch gröber aussieht, weil ihn keine Haare umrahmen. Sie sind millimeterkurz geschoren.
Während ich ihm von meiner Reise nach Tai’an und Jinan berichte, kommt eine sehr zierliche, schwarzhaarige, zwar ein wenig schlitzäugige, aber trotz der vorstehenden Wangenknochen nicht wie eine Chinesin aussehende Frau in einem engen roten Kleid an unseren Tisch.
»Moja dotschka Irina – Meine Tochter Irina.« Sie begrüßt mich in akzentfreiem Deutsch mit: »Ich freue mich, Sie zu sehen, mein Vater hat mir von Ihrer Begegnung berichtet.«
Sie hat in Peking 5 Jahre mit einem deutschen Mann gelebt. »Er verließ mich leider und hat unseren zwei Jahre alten Sohn mitgenommen. Aber wenigstens die deutsche Sprache musste er mir hierlassen.«
Als ich sie später nach dem Brand im Bahnhof frage, bei dem ihre Mutter umgekommen
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