Madame Zhou und der Fahrradfriseur
verteilt: Hummerscheren, Lammfleisch, mir unbekannte Fischsorten, Pilze … Und zum Schluss Bananen. Fast zwei Stunden lang kredenzt er eine Köstlichkeit nach der anderen. Und als zwischendurch das Licht verlischt, holt er eine Taschenlampe aus seinem Kochkittel und legt Streifen von marinierter Hühnerbrust auf die Platte. Bier kann jeder so viel trinken, wie er möchte. Nur Mineralwasser muss man extra bezahlen.
Auf der Fahrt nach Hause eröffnet mir Monika, dass der Stellvertretende Schulleiter der Deutschen Schule mich zu einer Lesung vor Schülern und Interessenten in das Auditorium der Schule eingeladen hat. Ich bin nicht begeistert und versuche mich mit dem Argument, dass ich keine eigenen Bücher nach China mitgenommen habe, herauszureden.
Doch Klaus dreht »Alles Rot« leise und sagt: »Sie stehen doch fast alle in meinem Regal.«
SPICKZETTEL (10)
N. N., Berufswunsch: lass ich auf mich zukommen
Ein guter Tag ist für mich, wenn ich schulfrei habe und viel zu essen im Kühlschrank liegt. Ein schlechter Tag, an dem man lange Schule hat, draußen über 35 Grad sind und die Klimaanlage nicht funktioniert.
Hier vermisse ich die Möglichkeit, beim Kaufen zu lesen, was wirklich in der Packung drin ist. In Deutschland vermisse ich dagegen den Verkehr in Peking. Ich habe mich total an das Chaos in China gewöhnt und liebe es.
M. W., Berufswunsch: Arzt
Meine Wünsche: einen Studienplatz, feste Arbeit und ein volles Bankkonto. China wünsche ich mehr Freiheit, mehr Wissen und einen höheren Lebensstandard.
Wenn ich an Deutschland denke, fehlt mir hier ein freies und schnelleres Internet, außerdem Döner und saubere Luft. Wenn ich in Deutschland bin und an China denke, dann ist China besser, weil es in China keine Türken gibt und keine Jugoslawen, auch im Dunkeln einigermaßen sichere Straßen, billiges, aber gutes Essen, viele Taxis und man unnötige Ampeln ignorieren kann.
Das Sprengkommando
ODER:
Dong de jun guan zhuan hang dao bei jing zhi zao xiang chang – Die Umschulung des DDR-Militärattachés zum Pekinger Wurstmacher
Am nächsten Morgen ruft Steffen Schindler an. Es geht ihm besser. Wir können uns in der »Anlegestelle« treffen. Er will gegen 10 Uhr dort sein.
Damit ich nicht wieder umherirre, fährt mich Klaus zu der deutschen Gaststätte. Ich hätte sie auch gestern gefunden, wenn ich das schluchtenförmige Lehmbett mitten in der Stadt als Fluss erkannt und daran bis zur »Anlegestelle« entlanggelaufen wäre. In dem 50 Meter breiten Flussbett windet sich nur noch ein dünnes Rinnsal. Ein Schiff steckt mit dem Kiel in der Erde, und Arbeiter versuchen mit Presslufthämmern und Pickeln den gefrorenen Boden aufzuhacken und überdimensionale, zu Bündeln zusammengefasste dekorativ aus dem »Fluss« ragende Räucherstäbchen neu zu befestigen. Die Tür der »Anlegestelle« schmückt außen ein schwarz-rotgoldenes Band. Innen riecht es schon vor 10 Uhr nach gekochtem Eisbein. Schwarz-rot gekleidete Bedienerinnen decken die Tische. Mit Messern. Mit Gabeln. Und mit Löffeln! Und eine singt dabei.
Der Chef und die Gäste fehlen noch. Ich setze mich nicht gleich, sondern studiere die an den Wänden angebrachten Hinweise, Verordnungen, Reklameschilder, Biersprüche und die alten Ölgemälde von Seeschlachten und Schiffsuntergängen. Die »Anlegestelle« in Peking ähnelt einer Hafenkneipe in Rostock. Fischreusen und Netze mit Kugelfischen und Hechten hängen an der Decke. Auf Raumteilern und Balken stehen Schiffsmodelle. Ein aus Plaste oder Pappmaché geformter Steuermann hängt so weit oben an der Wand, dass man ihm zur Begrüßung nicht wie »Miss Durty« im irischen Pub aufdie ausgestreckte Hand klopfen kann. Das maritime Interieur wird durch Positionslampen, Rettungsringe, Seemannsknoten, Schwimmwesten und ein Steuerrad vervollständigt. Dazwischen hängen künstliche Tannenzweiggirlanden, an denen Weihnachtskugeln befestigt sind, und daneben die deutsche Fahne mit dem Pleitegeier als Wappentier. Am Tresen verkündet ein Schild: »Tiefer als unser Kontostand liegt nur die Titanic.« Und ein anderes: »Wir lassen uns nicht hetzen! Wir sind bei der Arbeit und nicht auf der Flucht.« Im hinteren Teil des Gastzimmers werden die vier Krisen des Mannes genannt: »Bier warm. Zigaretten alle. Alte keine Lust. Kratzer im Lack.« Aus den Jahren vor 1933 werben Reklameschilder für die »Schweineschlachterei und Wurstwarenfabrik Frankfurt/Main, Sachsenhausen« und die »Hamburger Amerika-Linie,
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