Madame Zhou und der Fahrradfriseur
Deutschlands größte Reederei«.
Unter Glas befindet sich eine Urkunde über die Taufe des Seemanns Reinhard Nickel am 15. 07. 1964 auf dem DDR-Motorschiff »Werner Seelenbinder« auf 48 Grad östlicher Länge. An der Preistafel ist neu angeschrieben: »German Bockbier für 0,5 Liter 30 Yuan«. Außerdem gibt es Wernersgrüner, Krombacher und Kulmbacher. Am Mittelpfeiler der Gaststätte hängt ein Zertifikat, in dem bestätigt wird, dass Herr Steffen Schindler im Bayerischen Brauereimuseum Kulmbach den Bierkennertest bestanden hat. Nun ist er »berechtigt, bei Biertischgesprächen das Wort zu führen und lauthals sein Fachwissen zu behaupten«.
Als der stattliche Mann, dem man ansieht, dass er Bier und Fleisch liebt, gegen 10.45 Uhr zur Tür hereinpoltert, weist er zuerst seinem sofort herbeieilenden, dem Personal im Restaurant vorstehenden Chinesen in die Tagesaufgaben ein. Dann schaut er sich in der Gaststätte um, als müsste er mich im immer noch leeren Gastraum suchen.
»Möchtest du ein Bier?«
»Nein, bitte lieber einen Tee.«
»Sollte ich auch … – bringt einen Tee und … ein Bier!«, sagt er und setzt sich zu mir.
Er ist grauhaarig und schaut mit kleinen Augen freundlich aus seinem fülligen Gesicht. Als müsste er sich beruhigen und konzentrieren, verschränkt er die Hände und fragt mich nach dem Woher und Wohin und Wie lange und Warum. Dann sagt er kurz und bündig, aber nicht ungehalten: »Also was willst du wissen?«
Auf die Schiffe, das Steuerrad und die alten Ölbilder zeigend, frage ich, ob er zur See gefahren ist.
»Nein. Aber ich wollte bei der Fahne zur Marine. War so ein Jugendtraum. Konnte zwar schwimmen, hatte aber Schwierigkeiten mit den Augen. Für den ärztlichen Eignungstest im Wehrbezirkskommando hatte ich deshalb die immer kleiner werdenden Buchstabenreihen bei der Augenprüfung auswendig gelernt. Das funktionierte. Ich durfte zur Marine nach Rostock rauf. Dort oben aber sagten die Armeeärzte: ›Nicht tauglich für die Seefahrt!‹ Zu dritt sind wir Abgelehnten mit Sack und Pack, also mit unserem Seesack, runter nach Zittau zur Offiziersschule für die Landstreitkräfte. Ich hatte mich in Rostock auf Maschinenbau, auf Schiffsdiesel, spezialisieren wollen. Eben was mit Meer, dachte ich. Aber im Zug sagte mir einer von den beiden anderen: ›Was willste mit Schiffsdieseln? Schiffsdiesel brummen nur, Artillerie aber knallt! Da siehste, ob du was getroffen hast.‹ Also bin ich in Zittau zur Artillerie: Kanonen und Raketen. Aber nach der Ausbildung zum Leutnant wieder rauf nach dem Norden. Doch nicht auf ein Schiff, sondern zu den Panzerjägern.«
Ich unterbreche seinen lakonischen Bericht und sage: »Danach in 20 Jahren vom 22-jährigen Leutnant zum Oberst und Militärattaché der DDR – das ist doch keine normale Karriere?«
In seinem Leben, meint er grienend, sei sehr viel ungewöhnlich gelaufen. »Ein normaler DDR-Bürger konnte ich schon wegen meiner Mutter nicht werden. Die hat als Schneideringearbeitet. Aber nicht in einem VEB oder einer PGH. Sie war privat. Private Schneidermeisterin mit 6 (!) Angestellten. Schneiderin, das kam in der DDR gleich nach Kfz-Schlosser oder Arbeiter in einem Fliesen-Betrieb. Mutter nähte für die Leute das, was sie im Geschäft nicht kaufen konnten. Sie hatte, was man heutzutage in China am allerwichtigsten braucht: Guanxi – Beziehungen. Da gab es einen Tierarzt auf dem Land, der früher Arzt bei der bespannten Artillerie war. Für dessen Frau nähte sie auch. Dem durfte ich während der Schulferien helfen. Er behandelte alles: vom Papagei bis zum Bullen. Mit Mutters Beziehung erhielt ich dann eine Lehrstelle: Pferdezüchter mit Abi. Aber die Ausbildung wechselte dort regelmäßig: ein Jahr Pferd, ein Jahr Rind. In dem Jahr waren die Rinderzüchter mit Abi dran. Das hat zum Beispiel der Gysi gemacht. Aber Rinderzüchter wollte ich nicht! Dann gab es im Kreis noch drei (!) Lehrstellen für Kfz-Mechaniker. Mutter besorgte eine davon. Doch als mir ein Besoffener vom Autohof verklickerte: ›Bei uns waschen die Kfz-Stifte nur die Busse‹, schmiss ich die Sache. Und ging in den Druckereimaschinen-Betrieb Planeta in Radebeul. Damals hatte ich schon ein Mädel. Außerdem musste ich, damit die Mutter weiterhin ihren schützenden Beziehungs-Arm über mich hielt, das Abi in der Volkshochschule nachholen. Und spielte in einer Band Gitarre. Jeden Morgen früh um 4 Uhr raus! Und 30 Kilometer bis nach Radebeul. Mutter hatte mir abends schon Bemmen
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