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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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ist, sagt Irina, dass ich es falsch verstanden habe.
    »Es war nicht der Bahnhof, sondern das Stellwerk. Und meine Mutter war, als der Blitz dort eingeschlagen hatte, nicht sofort tot. Doch als der Vater 4 Tage später kam, hat er sie nicht mehr lebend angetroffen. Da ließ er mich bei der Großmutter und fuhr wieder weg.«
    Erst ein Jahr später holte er die Tochter. »Die Leute im Dorf verziehen ihm nicht, dass er seine Frau nicht begraben hatte. Damals, ich war 5 Jahre alt, sagte er: ›Töchterchen, wir fahren nach Peking und werden in China leben.‹«
    »Weshalb ausgerechnet nach China?«, frage ich.
    Nun versucht der Vater mir – mit der Bemerkung, »Irina versteht wenig davon« – auf Russisch klarzumachen, dass er damals wochenlang als Zugbegleiter auf den langen Strecken zwischen Moskau und Peking fahren musste.
    »Die chinesischen Genossen Eisenbahner brachten Radios und elektrische Rasierapparate, kleine Fernseher und Plattenspieler und sogar Ersatzteile für unseren sowjetischen Lada aus China mit und tauschten all das unterwegs gegen Pelze, Kaviar, russischen Wodka, Ikonen und alten goldenen Kirchenschmuck.«
    Der beste chinesische Schmuggler sei der Lokführer Zhang gewesen. Aber den hätte er später in Peking nicht wiedergetroffen.
    »Ich brachte die Waren der Chinesen unter die Leute. Später ließ Zhang sogar bei jeder Fahrt zusätzlich einen Waggon mit begehrter chinesischer Elektronik an seinen Zug koppeln. Deshalb hatte ich keine Zeit, mich um die Frau, das Kind und das Stellwerk zu kümmern. Ich war immer unterwegs.«
    Als er das mit dem Schmuggel verdiente Geld der Mutter seiner Frau schenkte, sie ihm aber trotzdem nicht verzieh, sondern sogar verfluchte, ist er mit der Tochter nach Peking gefahren.
    »Dort konnte ich jedoch nicht mehr als Eisenbahner arbeiten. Das durften nur Chinesen. Also wurde ich zum russischen Wanderarbeiter in China.«
    Zuerst schuftete er in einem Pekinger Elektrobetrieb, der die Staubsauger herstellte, die er in Russland für die Chinesen getauscht hatte. Das Geld, das er in der Elektrofirma verdiente, reichte nur, um in einer bunkerähnlichen Betonhütte mit Irina und drei anderen Familien ein Dach über dem Kopf zu haben. »Und für täglich eine Schale Reis.«
    Jeden Tag ging er nach seiner Arbeit zum Bahnhof, und nach Monaten fand er endlich chinesische Genossen Eisenbahner, die er aus dem Zug Peking–Moskau kannte. Sie halfen ihm.
    »Ich konnte einen Stand auf einem der Pekinger Märkte eröffnen und dort Videos und CDs mit den neuesten, manchmal noch keine zwei Monate alten Filmen aus den USA und Europa verkaufen. Für 10 Yuan. 4 Yuan blieben mir als Gewinn.«
    Viele Jahre hat er von diesem Handel mit kopierten Filmen gelebt. Bis die Behörden den Markt von einem auf den anderen Tag schlossen. »Dadurch wollte man den Verkauf von vor allem auf diesen Märkten angebotenen gefälschten ausländischen Produkten einschränken.«
    Da setzte er sich mit 60 Jahren zur Ruhe. Seine Tochter Irina versorgt ihn. Früher hat sie – weil sie wie eine Mongolin aussieht – in einem Restaurant im »Roten Viertel« ihr Geld verdienen müssen. Inzwischen arbeitet sie im Monat eine Woche als Model bei einer Werbefirma. In den übrigen drei Wochen ist sie die »rechte Hand« von Madame Zhou. Madame Zhou arbeitet im Büro eines Rechtsanwaltes, der in Peking gegen den Willen der Behörden ein Büro eröffnet hat, in dem er versucht, in Not geratenen Wanderarbeitern zu helfen. »Auch solchen, denen die Unternehmer seit Monaten den Lohn schulden und die deshalb von ihnen wegjagt werden sollen.«
    Madame Zhou ist eine Frau vom Dorf und hat bei einem Unfall die rechte Hand verloren. Nun schreibt sie mit der linken. Sie muss viel schreiben. »Sie besucht juristische Seminare, um Wanderarbeiter, die zu ihr kommen, formal richtig zu beraten.« Als ich Irina frage, ob ich Madame Zhou sprechen kann, will sie mir sofort die Telefonnummer aufschreiben. Dabei stutzt sie, fragt, ob ich Chinesisch spreche.

    Straßenhändlerin
    »Nein«, sage ich lachend.
    »Aber Madame Zhou spricht nur Chinesisch.«
    Wir vereinbaren, dass ihr Vater das Treffen organisiert.
    »Und wo Sie ihn finden, wissen Sie ja.«
    Zum Abendessen gehe ich mit Monika, Klaus und ihren deutschen Freunden in ein japanisches Restaurant. Ich kenne niemand aus der Runde. Aber das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist allein, was der Chinese auf die große, extrem heiße Platte legt und nach kürzester Zeit auf unseren Tellern

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