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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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erneuern. Und das zu einer Zeit, als die Kulturrevolutionäre alle wertvollen Zeugnisse der kaiserlichen Vergangenheit zerstörten! (Nur die »Verbotene Stadt« musste damals verschont werden. Sie wurde auf Befehl der Parteiführung von den Soldaten der Volksbefreiungsarmee beschützt.)
    Ich bezweifle, dass die Geschichte mit dem Abriss und dem Neuaufbau stimmt. Doch Du Qi kennt Einzelheiten, die sein Freund, ein Architekturstudent, von einem beteiligten Statik-Professor erfahren hat, und zeigt mir außerdem ineinem englischen Reiseführer die Information: »1970 Renovierung des Tian’anmen-Tores«.
    Zuerst hat man eine 100 Meter lange Bambusmatte geflochten. Dahinter wurde das Tor so gut versteckt, dass darunter sogar Kräne ungesehen arbeiten konnten. Der Bevölkerung und den Touristen sagte man: »Das Tor wird neu gestrichen.« In Wirklichkeit zerlegten Tausende Arbeiter das gewaltige Bauwerk in alle Einzelteile. Die Balken mussten, damit später niemand den Unterschied zwischen alt und neu bemerken konnte, wieder ohne Nägel kunstvoll zusammengefügt werden. Wegen der klirrenden Kälte installierten Techniker unter der Bambusmatte Heizungsrohre. Mao Zedong und der Ministerpräsident Zhou Enlai ordneten an, dass kein neues Holz, kein Farbanstrich, kein frisch gebrannter Ziegel von den Originalen abweichen darf. Einige der 60 über 10 Meter hohen Edelholzbalken mussten aus Afrika geholt und 100 000 Ziegel gebrannt und farbig glasiert werden.
    »Nach nicht einmal 121 Tagen fiel die Bambusmatte. Die Pekinger erfreuten sich an ihrem frisch gestrichenen, farbenfrohen Tor des Himmlischen Friedens. Niemand merkte, dass es ein neues Tor war. Erst im Jahr 2000 informierten beteiligte Architekten die Öffentlichkeit.«
    Ich sage immer noch zweifelnd und auf das mit Mao, Staatswappen und Losungen geschmückte ewige Tor schauend: »Also ein chinesisches Fake, ein Plagiat! Aber ein gutes.«
    Und zeige dann lachend auf Du Qis Nike-T-Shirt, die Levi’s-Jeans und die Adidas-Turnschuhe. Nun lacht auch er. »Aber das T-Shirt ist ein Original. Das hat mir meine Freundin vor zwei Monaten zum Feiertag des 1. Oktober geschenkt.«
    Am 1. Oktober 1949 war Mao Zedong die 63 Stufen zum Balkon des Tian’anmen-Tores, der sich genau über dem nur für den Kaiser vorbehaltenen Mittelgang befand, hinaufgestiegen und hatte vor 300 000 Menschen verkündet: »China ist aufgestanden!«
    Friederike hatte mir im »Schillers« gesagt, dass der Stolz über diesen Satz bis heute nicht von Partei und Regierung befohlen werden muss. Sie war einmal in der Nacht zum 1. Oktober gegen 1 Uhr auf dem Platz. »Tausende Chinesen kampierten dort, um das Hissen der Fahne zu erleben.«
    Du Qi fragt, was ich anschließend noch besichtigen werde.
    »Die ›Verbotene Stadt‹ und das Olympia-Stadion.«
    Ich bin nicht unglücklich, als er sagt, dass er mich leider nicht in die Kaiserstadt begleiten kann. Er muss noch zur Universität. Doch am späten Nachmittag würde ich ihn auf dem Olympia-Gelände treffen. Sein Onkel, ein Elektriker, der wie er aus der Provinz Shandong kommt, bringt dort die Weihnachts- und Neujahrsillumination an. Und er wird ihm dabei helfen.
    Ich glaube es nicht. Beim Abschied bittet er mich nicht um ein Honorar für seine Informationen. Aber vielleicht könnte ich ihm helfen, Bücher für das Studium zu kaufen. Deutsche Bücher. Für 20 Yuan bekommt er Schillers Dramen. Ich gebe ihm 30 Yuan und sage, er soll sich außerdem noch Brechts Gedichte holen.
    Weil der kaiserliche Mittelgang durch den Wachsoldaten der Volksbefreiungsarmee, eine Kette und ein Band abgesperrt ist, gehe ich durch das seitliche Tor, durch das früher die Bediensteten laufen mussten, in den Kaiserpalast. Ich nähere mich von hinten den Stufen, die zum Balkon der Weltgeschichte hinaufführen. Durch das Tor des Himmlischen Friedens zu spazieren kostet nichts. Aber wer auf den Balkon will, von dem aus der Kaiser seine Verdikte vor 300 000 Untertanen verkündete und Mao Zedong zu einer Million Chinesen sprach, wer dort hinauf will, zahlt 15 Yuan. Ich verzichte darauf, die Weltgeschichte von oben nachzuempfinden, und gehe die kaiserliche Nord-Süd-Achse (nur vom Süden strömt die Energie herein) bis zum Mittagstor, durch das ich die Verbotene Stadt betreten kann. Doch zuvor muss ich an den Kassen, an denen in dieser Jahreszeit wenige Touristen stehen, ein Billett lösen. Auf dem Weg umringen mich, weil ich einer der wenigen Ausländer auf dem Platz bin, sofort ein Dutzend

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