Mademoiselle singt den Blues - mein Leben
geschieht etwas Wichtiges. Etwas wie eine Offenbarung. Seine Intuition und seine jahrelange Erfahrung lassen ihn vermuten, dass ich eine der GroÃen werden könnte, ein Star. Ein Gedanke, den er nicht auf dem Grund seines Bierglases findet, sondern auf der Bühne. Ich bringe ihn auf diesen Gedanken.
Er ist von meinem Talent überzeugt. Meiner Mutter und mir singt er Loblieder auf meine Stimme und verspricht, er werde seine zahlreichen beruflichen Beziehungen spielen lassen, damit ich Karriere machen könne. Er wirkt ehrlich und entschlossen. Doch das möchte ich erst sehen. Er ist nicht der Erste, der mir von dem Talent erzählt, das man ins rechte Licht rücken müsse. Solche Leute sind oft angenehm im Umgang, haben aber nicht immer gute Absichten. Die Grenze vom »Sie haben eine absolut auÃergewöhnliche Stimme!« zum »Ich würde Sie gern näher kennenlernen!« wird nur allzu oft überschritten. Aber ich falle nicht so leicht
darauf herein. Ich singe in Nachtklubs, da trifft man nicht unbedingt die Anständigsten. Ich erkenne den begehrlichen Blick, die unpassende Geste, die veränderte Tonlage in der Stimme. Ich sehe sie schon von Weitem, die Perversen, die Dreckskerle und die Gerissenen. François Bernheim ist keiner von ihnen.
Zurück in Paris, wo er wohnt, ruft er seinen Freund Gérard Depardieu an und schlägt ihm vor, Geld in eine Schallplattenproduktion zu stecken. Depardieu ist just auf der Suche nach Investitionsmöglichkeiten, auch im Bereich Musik, weil sich seine Frau Ãlisabeth, die auch als Songwriterin arbeitet, in der Szene bewegt. Ãber sie haben Depardieu und Bernheim sich kennengelernt. Ãlisabeth Depardieu schreibt gemeinsam mit François Chansons. Sie haben gerade eins fertig, das sie zusammen mit Joël Cartigny geschrieben haben. Es heiÃt »Jalouse«  â Eifersüchtig. Das wird meine erste Single.
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Eine Plattenaufnahme ist für mich ein logischer Fortschritt, eine Möglichkeit, meine Stimme über Lothringen hinaus bekannt zu machen. Meine kleine lokale Berühmtheit sichert mir meinen Beruf. Ich kenne zwar nichts auÃerhalb meines heimischen Umfelds, aber ich bin bereit, unbekannten Pfaden zu folgen.
Bernheim, Depardieu, Paris, das ist alles sehr schick, sehr schmeichelhaft, hell und verführerisch. Und auch ein bisschen beängstigend. Wenn ich mit einem Mann wie Bernheim spreche, spüre ich vage, was uns trennt, den wirklichen, den kulturellen Abstand. Er kann sich gut ausdrücken. Er scheint sich in jeder Situation wohlzufühlen. Er weià immer, wovon die Rede ist, nennt Filme, Bücher, Alben, Fotografen. Ich hingegen bin zurückhaltend und voller Komplexe. Schon weil
ich mich mager und bleich finde, gar nicht hübsch. Und dann habe ich den Akzent meiner Gegend, dieses Ãstliche, diese in die Sätze gepflanzte lothringische Fahne. Wenn ich spreche, sehe ich nur sie. In Paris höre ich das andere Französisch, das schöne, flüssige, glatte. Das nationale Französisch. Ich muss es nachahmen, mir zu eigen machen, es mir künstlich in den Mund legen. Gar nicht so einfach in wenigen Monaten, zumal ich zunächst noch hin- und herpendle. Aber ich habe eine Lösung: Ich spreche möglichst wenig. Das Schweigen schützt mich, es hindert mich daran, mich zu verraten, mich und mein Unwissen. Nicht nur habe ich einen Akzent, der einem in die Ohren springt, ich bin auch noch im neunten Schuljahr von der Schule abgegangen. Ich habe auf einigen Gebieten Lücken. Mein Ort des Lernens ist das Leben. Es erscheint mir gröÃer, interessanter, auch unvorhersehbarer. Meine Bildung, das sind nicht Daten, Tatsachen und Leute, die tot und begraben sind, sondern die Wirklichkeit, das lebendige Publikum und die Bühne.
Bei uns daheim ist es nicht üblich, sich zu »bilden«. AuÃer Kochbüchern gibt es keine Bücher im Haus. Ich sehe Papa nie schmökern. Uns geht es nur um unsere schlichte Freude darüber, zusammen zu sein. Alles andere existiert nicht. Es geht um unsere eigene Geschichte, nicht um die Weltgeschichte und die Vergangenheit der anderen.
In Paris bin ich fremd, entwurzelt. Ich mag zwar schon neunzehn sein, aber ich bin immer noch völlig unreif und absolut nicht selbstständig. Ich bin an Maman gebunden, immer und unter allen Umständen. Ich wage keinen Schritt, wenn sie nicht da ist, wenn ihr behütender, liebevoller Blick nicht
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