Mademoiselle singt den Blues - mein Leben
einfach nicht erzählen kann, Stillschweigen
bewahren. Das ist legitim, aber es macht mir trotzdem zu schaffen, ich neige zu Schuldgefühlen.
Früher machten wir beide am Wochenende Ausflüge. Wir besuchten die Familie Schmitter und deren Vergnügungspark in Plobsheim in der Nähe von StraÃburg. Sie haben einen hübschen Weiher, auf dem man Tretboot fahren kann. Ich bin mit ihrer Tochter befreundet und hatte sogar einmal eine Schwäche für ihren Sohn. Dort werden oft kleine Gesangswettbewerbe veranstaltet, und dort habe ich auch Sindy gefunden, meinen ersten Hund. Den Dalmatiner, den Papa mir geschenkt hat.
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Meine Mutter ist meine beste Freundin, meine Vertraute. Sie beschützt mich vor den anderen Erwachsenen, sie bestärkt mich in meiner Berufung und unterstützt mich in jeder schwierigen Lage. Sie ist sicher, dass ich Talent habe, dass meine tiefe, kräftige Stimme mit der Stimme der Piaf vergleichbar ist, dass für mich, das Kind eines Landes ohne Wunder, ein Wunder geschehen wird. Sie genieÃt die Kommentare, die im Publikum über mich abgegeben werden, sie hört: »Das Kind hat wirklich eine Stimme.« Aber sie hört nicht immer, was folgt: »Die beiden müssen endlich aufhören, sich Illusionen zu machen, sie und ihre Tochter!«
Ich spüre, dass Maman mich ganz fest ansieht, so wie man eine Hoffnung fixiert, aus Angst, sie könnte verschwinden. Ich weiÃ, was sie in mir sieht. In Stiring-Wendel sind sich die Perspektiven ziemlich ähnlich, und sie sind rar. Für Maman, deren Leben nicht einfach ist, für sie, die nie über Saarbrücken hinausgekommen ist, bin ich eine VerheiÃung.
Mit mir erweitert sich ihr Horizont, und sie unternimmt eine erste Reise. In der nicht so schönen Jahreszeit, im Herbst,
im Oktober. Ich bin sechzehn und habe den Gesangswettbewerb des Kit Kat, einer regional bekannten Disco, gewonnen. Der Preis ist eine Europa-Kreuzfahrt und verbilligte Mitfahrten für meine Angehörigen. Maman kann mich also begleiten, und sie hat Hilde, eine Nachbarin, gefragt, ob sie nicht mitkommen wolle. An den Tagen vor der Reise sind wir ganz zappelig. Wenn man es nie zuvor getan hat, ist Verreisen eine tolle Sache, vor allem, wenn man zur See reist. Wir kennen das Meer nicht. Nicht etwa, dass ich eine schlechte Schwimmerin wäre, aber das Wasser ist oft zu kalt oder ich bin zu verfroren. Ich bin eben nicht daran gewöhnt.
Das Schiff ist sehr schön, der Schlagzeuger und der Kapitän sind es auch, die Kabinen sind komfortabel und die in Aussicht gestellten Länder, in Südeuropa und einem Zipfel von Osteuropa, herrlich. Nur sehen wir nichts. Dazu ist uns viel zu übel. Das Schiff ist luxuriös, das Essen erlesen, die Menüs sind unglaublich, doch die Seekrankheit macht uns stumm, taub und blind. Man serviert uns Langusten, deren traurige Augen mir den Magen umdrehen, und rohen Lachs, der viel zu tot aussieht. An Deck ist es lausekalt, und das Meer, grau, marineblau und schwarz, macht ein böses Gesicht. Es wirft Falten, zieht Grimassen und spuckt weiÃen Schaum. Die Wolken am Himmel ziehen in einer schwindelerregenden Geschwindigkeit, die meinen nicht mehr kontrollierbaren Brechreiz noch steigert. Wir vergnügen uns nicht, wir leiden. Ich fühle mich schwach, mein Teint spielt ins Gelblich-Grünliche. Ich möchte mich ins Bett legen, aber ich darf nicht, ich muss singen. Es wird einem nichts geschenkt im Leben. Ich habe diese Reise bereits gewonnen, doch ich muss noch einmal dafür zahlen. Normalerweise, bei ruhiger See und guter Gesundheit, hätte ich nichts dagegen gehabt,
allabendlich ein Liedchen zu schmettern. Aber so ist es eine Qual.
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Mit einem anderen gewonnenen Wettbewerb kann ich das Desaster der stürmischen Ãberfahrt wieder ausgleichen. Dieses Mal ist der Gewinn ein vollständig bezahlter Aufenthalt in Südfrankreich, genauer gesagt in Nizza. Nach dem Dunkelgrün und Grau der Heimat sind der blaue Himmel und das Meer eine Abwechslung für uns. Für Maman sieht so das Dolce Vita aus. Nizza an sich interessiert sie nicht. Ihre Träume kreisen um eine andere Stadt ganz in der Nähe: Monaco. Sie als Grace-Kelly-Fan brennt darauf, um das Fürstenschloss herumzuspazieren und die Atmosphäre einer Geschichte zu atmen, die sie fasziniert. Jachten, Limousinen, riesige Sonnenbrillen, die das halbe Gesicht verdecken, breitkrempige Hüte, die trügerischen
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