Mademoiselle singt den Blues - mein Leben
Ich bin einundzwanzig Jahre alt und im Olympia. In einer halben Stunde muss ich auf die Bühne. Ich bin ruhig, bereit, fast ungeduldig. Dies hier ist kein Traum. Ich erkenne mich wieder, das bin ich, obwohl mein Gesicht verändert ist. Jetzt ist mein Haar eher dunkel mit ein paar hellen Strähnen. Und meine Augen liegen frei, wie auch mein Hals. Ich fühle mich beinahe entblöÃt, fast wie neugeboren. Eben bin ich im Gang Julie Pietri begegnet, dem Star des Abends. Ich bestreite das dreiÃigminütige Vorprogramm für sie. Der Frisurenwettbewerb der Achtzigerjahre ist noch in vollem Gange, und heute Abend hat sie ihn ganz klar gewonnen. Sie ist auf dem Höhepunkt ihrer Karriere mit einem Titel, der unter den Top 50 aufräumt: »Ãve, lève-toi« â Eva, steh auf. Mit ihren durchscheinenden Augen, der kleinen Lücke zwischen den Schneidezähnen und
ihrer ein bisschen gebrochenen Stimme weckt sie bei allen Begeisterung.
Zweitausend Menschen füllen die berühmten roten Sitze dieses Musiktempels, in dem all die Unsterblichen mindestens einmal auftreten. Sie sind ihretwegen gekommen. Mich erwarten sie nicht, aber ich will, dass sie mich entdecken. Ich stehe vielen Menschen gegenüber, doch ich sehe nur sie . In der ersten Reihe sitzt Maman, das Gesicht erhellt von der Bühnenbeleuchtung. Ihr ausgemergeltes Gesicht, das von dem glücklichen Lächeln noch weiter ausgehöhlt wird. Sie wirkt verzückt, eingetaucht in ein Märchen, in dem sie mittelbar die Heldin ist. Sie hat die von dieser verdammten Krankheit schon veränderten Augen weit geöffnet. Ich liebe es, ihr das schenken zu können, diese magischen Schleusenkammern, in denen sie ihr Leid vergisst.
Sie lächelt wie ich gerade in dem Spiegel, der so viele Künstlergesichter gesehen hat. Sie hält den Atem an, und ich lege los.
Ich singe »Mademoiselle chante le blues«, und das entspannt dasitzende Publikum wird lebendiger. Es ist wohltuend wie ein Streicheln, ich bringe die Leute in Schwung. Sie scheinen es zu mögen, verlangen nach mehr. Nachdem ich sie mitgerissen habe, folge ich nun ihrem Enthusiasmus, ihren Zurufen. Die Zeit meines Vorprogramms ist abgelaufen, eigentlich müsste ich die Bühne verlassen, aber das kann ich in dieser Situation unmöglich tun. Ganz der Euphorie des elektrisierten Publikums hingegeben, folge ich seinem Wunsch und singe noch einmal »Mademoiselle«. Ich singe vorn am Bühnenrand, denn auch der Vorhang hinter mir ist in Wallung geraten. Julies Manager, der zugleich ihr Verlobter ist, wird ungeduldig. Er will, dass ich abhaue, und teilt es
mir mit, indem er den Arm durch den Vorhang streckt, mich an der Jacke packt und wie verrückt daran zerrt. Ich leiste Widerstand und bringe zu Ende, was ich angefangen habe. Dann trete ich widerwillig ab, unter dem Applaus des Publikums. Ein Augenblick der Gnade. Maman hat ihn mit mir erlebt. Als sie danach zu mir kommt, ist sie bleich, noch aufgewühlt vom Anblick ihrer Kleinen, die nun groà wird.
Wenn ich die Lider schlieÃe, sehe ich das Leuchten der Angst in Mamans Augen. Das Leiden meiner Mutter ist allgegenwärtig wie ein schriller Laut, wie ein hartnäckiges Ohrgeräusch. Es verdirbt mir alles, auch die Freude an den Dingen. Ich kann sie nicht mehr wie früher genieÃen. Jetzt ist mir bewusst, dass all das nichts ist, dass es vorübergeht. Und nie wiederkommt.
Maman hat recht, seit sie krank ist, werden wir groÃ. Gestern noch war ich ein kleines Mädchen von neunzehn Jahren. Heute bin ich hundert. Mir tut alles weh, seit ich weiÃ, dass ich mich bald nicht mehr in ihre Arme schmiegen kann. Ich höre nichts mehr, ich sehe nichts mehr, ich bewege mich nur mühsam. Ich bin gealtert. Und wenn ich singe, dann stürzen in meiner Stimme Berge von Schmerz zu Tal und reiÃen sie mit sich.
7
Die Zeit vergeht
Ich bin in Berlin. Und wenn man aus der Grenzregion kommt, fühlt man sich in Deutschland überhaupt nicht wie im Ausland. Ich mag diese nüchterne, kreative Stadt, diesen dichten Stadtkern, der die Geschichte widerspiegelt. Wenn ich dorthin reise, versuche ich immer, ein bisschen zu bleiben, wenigstens ein paar Tage, dort zu flanieren, mich umzuschauen und die Reste der Mauer zu sehen. Ich würde auch gern in experimentelle Filme oder in abgefahrene Konzerte gehen, doch das erlaubt mein Zeitplan nicht. Seltsamerweise drückt sich hier die deutsche Kultur und
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