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Madrapour - Merle, R: Madrapour

Madrapour - Merle, R: Madrapour

Titel: Madrapour - Merle, R: Madrapour Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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weißlichen Fleck mit verschwommenen Umrissen übrigläßt.
    Am deutlichsten ist noch das abgezehrte Gesicht von Bouchoix zu erkennen. Vielleicht liegt es an der horizontalen Lage, daß sich auf seinem Gesicht mehr von dem verbliebenenLicht sammelt. Es wirkt auch noch weißer und eingefallener. Ich sehe ihn an. Mir scheint, seine Lippen haben sich bewegt. Ich erschauere unter panischer Angst, die aber sofort verfliegt. Ich weiß, wie dieser trügerische Effekt zustande kommt. Wenn man einen Toten lange ansieht, glaubt man am Ende immer, daß sich sein Gesicht unmerklich bewegt hat. Diese Täuschung muß daher rühren, daß es uns nicht gelingt, uns mit seiner unwiderruflichen Starre abzufinden.
    Ich spüre an meinen verstopften Ohren, daß wir immer schneller an Höhe verlieren. Ich schlucke, um mich von dem Druck zu befreien, und an der Anstrengung, die mich das kostet, kann ich erneut meine Schwäche ermessen.
    Die Dämmerung nimmt uns jegliche Möglichkeit, die Entfernung zur Erde einzuschätzen, und als das Flugzeug wie am Abend zuvor mit äußerster Heftigkeit aufsetzt, spüre ich nicht etwa Erleichterung, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, sondern beklommene Ungläubigkeit.
    Niemand sagt ein Wort. Das Flugzeug bremst so stark, daß es einem den Atem verschlägt, scheint aber trotzdem endlos lange über ein unebenes Gelände zu rollen. Die Hände um die Seitenlehnen gekrampft, warten wir angespannt. Nach einigen sehr heftigen Stößen kommt die Maschine zum Stehen. Die Motoren verstummen, und in der Stille hört man das Scheppern der ausfahrenden Treppe.
     
    Plötzlich knackt ein Lautsprecher, und eine näselnde Stimme ertönt in unserer Mitte, ohrenbetäubend, als ob der Verstärker auf höchste Phonstärke eingestellt wäre. Kein menschliches Ohr könnte diesen Lärm lange ertragen. Die Stimme explodiert regelrecht in unseren Köpfen, man weiß nicht, wohin man sich vor ihr flüchten soll. Sie ergreift von dem Flugzeug Besitz, füllt es bis zum äußersten Winkel aus, hallt von einem Ende des Rumpfes zum anderen wider. Man hat den Eindruck, daß sogar die Wände genauso vibrieren müßten wie unsere zuckenden Körper. Glücklicherweise formuliert sie nur einen Satz. Ohne die geringste Höflichkeitsfloskel, ohne das rituelle »Meine Damen und Herren«, ohne jegliche Angabe von »Ortszeit« und »Außentemperatur« verkündet sie im Befehlston: »Lösen Sie nicht Ihre Gurte!«
    Mir leuchtet der Grund dieser Anordnung nicht ein, weil dieChartermaschine zum Stehen gekommen ist. Aber aus den Bewegungen, die Chrestopoulos und Blavatski im Halbdunkel machen, schließe ich, daß sie sich wieder festschnallen. Die Stimme, die uns befiehlt, steht mit Augen in Verbindung, denen nichts entgeht.
    »Mademoiselle«, fährt die näselnde Stimme fort, »öffnen Sie den Exit.«
    Die Stewardess löst ihren Gurt und erhebt sich. Ich wende den Kopf, ich sehe sie kaum, aber ich höre, wie sie sich an der Verriegelung zu schaffen macht. Und ich weiß, daß sie die Tür geöffnet hat, als ein eisiger Wind ins Flugzeug dringt.
    Mir nimmt es den Atem, meine Lungen brennen, ich keuche, Schauer jagen über meinen Körper. Bei meiner Schwäche gelingt es mir nicht einmal, meine Muskeln zu spannen, um gegen die Kälte, die mich starr macht, anzukämpfen. Es scheint mir kaum vorstellbar, daß ein menschliches Wesen den Mut haben könnte, die Chartermaschine zu verlassen und sich draußen der sibirischen Kälte auszuliefern, wie gestern abend die Murzec. Links neben mir höre ich jemand mit den Zähnen klappern. Robbie, glaube ich. Er ist so dünn angezogen. Ich hätte nie gedacht, daß Zähne, die aufeinanderstoßen, solchen Lärm erzeugen können.
    Überall im Kreis werden jetzt Klagen laut, Stöhnen, Wortfetzen, aber seltsamerweise ist kein Wort des Protestes zu hören, wie von Blavatski oder Caramans zu erwarten gewesen wäre. Die polare Temperatur, die uns unter ihrem eisigen Hauch fast erstickt, lähmt gleichzeitig unsere Reflexe. Ich spüre, wie mich mit den endlosen Schauern eine heimtückische Müdigkeit überfällt. Ich kämpfe dagegen an. Ich fühle mich von den Anstrengungen erschöpft.
    »Achtung!« sagt die näselnde Stimme.
    Wiederum bricht sie mit unerträglicher Lautstärke in die Chartermaschine ein, vibriert und hallt in unseren Köpfen, als wollte sie sie sprengen. Selbst wenn sie schweigt, wagt man nicht aufzuatmen. Wie bei der Folter wartet man schon auf die nächste Quälerei, und obwohl die Stimme noch

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