Madrapour - Merle, R: Madrapour
Analphabetin. Aber ihr Gesicht und ihre Augen verraten, daß ihre einfachen Worte große Herzlichkeit ausströmen. Pacaud läßtdie Hände fallen, sieht sie mit seinen hervorquellenden großen Augen an und streicht ihr dankbar und zärtlich über Wange und Haar.
»Wisch dir das Gesicht ab, Dicker«, sagt Michou mit einer Sanftheit, die ihre Ausdrucksweise Lügen straft.
Er gehorcht, und während er sein rotes Mondgesicht mit einem großen, makellos weißen Taschentuch abtupft, läßt sie leise eine Litanei zärtlicher Beschimpfungen auf ihn herniederprasseln: »dickes Baby, dicker Klotz, Dickschädel« und dann wieder »Dicker«. Währenddessen reibt sie ihre Wange am harten Tweed seiner Schulter und sieht ihn unter ihrer Locke hervor überaus teilnahmsvoll an.
Ich werfe einen Blick zu Manzoni. In Abwesenheit von Mrs. Banister hält unser Hengst alles für erlaubt. Mit dümmlicher Miene sieht er unverwandt Michou an. Es will ihm nicht in den Kopf, daß man diesen glatzköpfigen Fünfzigjährigen, dessen Laster Madame Edmonde enthüllt hat, einem Manzoni vorziehen kann. Ich sehe es an seinem bestürzten Gesichtsausdruck: er stellt sich beunruhigende Fragen. Dabei haben die Liebkosungen zwischen Michou und Pacaud nichts, absolut nichts mit irgendeinem Laster zu schaffen. Es ist fraglich, ob die beiden jemals miteinander schlafen werden, es sei denn, Michou wollte es, wiederum aus Zärtlichkeit. Für Michou ist ausschlaggebend, einen Hafen gefunden zu haben, ein sicheres Gewässer, wo sie Anker werfen kann: eine kleine Brigg mit gerafften Segeln, die neben einem bauchigen Dreimaster vertäut ist. Manzoni denkt gewiß an das »schöne Paar«, das er mit Michou abgegeben hätte. Aber das »schöne Paar« ist ein Blickfang für die Augen der anderen. Manzoni übersieht das Wesentliche, er muß noch viel lernen. Ich hoffe, er wird noch Zeit dafür haben.
Mrs. Banister kehrt aus der Toilette an ihren Platz zurück, gefolgt von Mrs. Boyd, die am Arm ihre Krokodilledertasche hängen hat, auf eine Art, die mir irgendwie auf die Nerven geht, vielleicht weil alles an ihr ein bißchen hängt, ihre Brüste, ihr Bauch, ihre Tasche. Wenigstens die Tasche könnte sie elegant unter den Arm klemmen, so wie Mrs. Banister, die mit ihren frisch gebläuten Lidern klappert, um nicht gar zu auffällig ihren Galan anzusehen, der ihr gerade noch rechtzeitig seine unterwürfigen Augen zuwendet.
»Oh, Margaret«, sagt Mrs. Banister, während sie sich mit einer anmutigen Körperdrehung hinsetzt, »Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich mich nach einem Bad sehne. Ich hoffe nur, daß mein Badezimmer eines Vier-Sterne-Hotels würdig sein wird. Ich bin bei Badezimmern sehr wählerisch.« Und da Mrs. Boyd nicht zu verstehen scheint, übersetzt sie:
“I am very fastidious about bathrooms, you know.”
»Ich auch«, antwortet Mrs. Boyd.
»Oh, ich erinnere mich, im Ritz, in Lissabon, hatte ich mich beschwert! Der arme Direktor begriff nichts. ›Aber Madame‹, sagte er mit seiner zischelnden Aussprache, ›was haben Sie an diesem Bad auszusetzen? Es ist aus Marmor!‹ (Manzoni zugewandt, lacht sie.) Jedenfalls werde ich in Madrapour als erstes ein Bad nehmen. Ein herrliches Schaumbad! Um mich ausgiebig zu schrubben! Hoffentlich finde ich jemand, der mir den Rücken abreibt.«
“My dear!”
sagt Mrs. Boyd.
»Sie natürlich, Margaret, wenn es Ihnen recht ist«, sagt Mrs. Banister mit einem schrägen Blick zu Manzoni.
Ich sehe und höre das alles, aber es ermüdet mich unsäglich, eine Komödie! Glaubt Mrs. Banister wirklich, daß sie so bald zu ihrem genußvollen Bad kommen wird? Und was heißt das eigentlich,
glauben
? Vor allem, wenn man diesem Verb das Adverb
wirklich
folgen läßt? Das unanfechtbare
wirklich glauben
trennen Welten von dem zweifelhaften
glauben wollen
und dem mehr als zweifelhaften
nur so tun.
Drei Kategorien, in die Menschen, welche beten, sich einordnen könnten, wenn sie den Mut zu solcher heimlichen Einstufung hätten und derlei möglich wäre: denn sind nicht diejenigen, die
glauben wollen
, dieselben, die glauben, daß sie glauben? Ein unentwirrbares Problem! Ich jedenfalls, der ich an Gott glaube oder an ihn glauben will – was in der Praxis vielleicht auf dasselbe hinausläuft, nicht aber im tiefsten Inneren –, ich glaube in diesem Augenblick wirklich nur an eines: an meinen eigenen Tod.
Die Stewardess hält immer noch meine Hand, die sie mit ihren Fingern streichelt, und während mein Leben verrinnt,
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