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Madrapour - Merle, R: Madrapour

Madrapour - Merle, R: Madrapour

Titel: Madrapour - Merle, R: Madrapour Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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Stimme, die zwischen Erleichterung und Angst schwankt. »Aber wir glaubten doch …« Er stottert, es gelingt ihm nicht, den Satz zu beenden, und er setzt von neuem an: »Bist du denn noch …«
    Auch diesen Satz bringt er nicht zu Ende. Das Wort »lebendig« kommt nicht über seine Lippen. Wieder schreit eine Frau; kurze, dumpfe, erstickte Ausrufe züngeln im Kreis empor, als ob niemand wagte, seinen Gedanken oder seinen Satz zu Ende zu führen.
    »Ich hatte es doch gesagt!« bricht plötzlich Blavatskis rauhe, herausfordernde Stimme los. »Ich hatte doch gesagt, daß er nicht tot ist! Niemand wollte auf mich hören und die notwendige Überprüfung vornehmen!«
    Unglaublich! Blavatski macht sich unsere Erschütterung zunutze, um noch in
extremis
Oberhand zu gewinnen. Da er uns nicht mehr beherrschen kann, tut er einfach so! Vor Kälte, vielleicht auch vor Angst zitternd, parodiert er seine eigene
leadership
! Das ist primitiv und kindisch, dennoch sind wir ihm in diesem Augenblick dankbar, daß er uns die einzige Erklärung gibt, die zu akzeptieren wir bereit sind, auch wenn sie absurd ist.
    Denn Bouchoix richtet sich nicht nur in seinem Sessel auf, er stellt sich steif und mit mechanischer Bewegung auf die Beine, ohne sichtliche Mühe, ohne jegliche Hilfe, ohne die Hand zu ergreifen, die Pacaud ihm reicht, der in Mißachtung des gegebenen Befehls seinen Gurt löst und ebenfalls aufsteht. Soweit ich es zu beurteilen vermag – ich klappere vor Kälte mit den Zähnen, mein Blick ist getrübt, außer Flecken und Umrissen kann ich nichts erkennen –, geht Bouchoix in Richtung Exit, wo auch die Stewardess steht. Er bewegt sich mit kleinen Schritten langsam fort, ohne zu schwanken, gefolgt von Pacaud, der ihn einholt und ihm seine Reisetasche in die Hand drückt, mit dumpfer, von Entsetzen und Kälte entstellter Stimme mühsam stammelnd: »Emile, deine Tasche! Deine Tasche!«
    Bouchoix bleibt stehen, streckt mit verblüffender Kraft seinen Arm, der die Tasche hält, waagerecht aus und beläßt ihn eine volle Sekunde in dieser Position. Ich sehe nicht, wie seineHand sich öffnet, es ist zu dunkel, aber ich sehe die Tasche fallen und höre, wie sie dumpf und weich auf dem Läufer aufschlägt.
    »Deine Tasche, Emile!« sagt Pacaud.
    Keine Antwort. Der geöffnete Exit gibt den Blick frei auf die aufgehellte, fast graue Nacht, und in diesem Rechteck zeichnet sich schwarz Bouchoix’ Silhouette mit den leeren Händen ab. Sie schwankt in dem eisigen Luftstrom. Sie bleibt stehen. Die Stewardess sagt mit unbeteiligter, berufsmäßiger Stimme: »Auf Wiedersehen, Monsieur.«
    Bouchoix wendet ihr den Kopf zu, sein grausiges Profil hebt sich eine Sekunde lang vom Grau der Nacht ab, aber er sagt nichts, er geht vorbei, er verschwindet, wir hören seinen schweren Schritt auf der Metalltreppe. Später, als ich die Stewardess frage, warum Bouchoix ihr nicht geantwortet hat, sagt sie: »Er hat mich nicht gesehen. Es ist sogar fraglich, ob er mich gehört hat.« – »Aber er hat Sie doch angesehen.« – »Nein. Nicht richtig. Sein Gesicht hat er mir zugewandt, aber seine Augen waren tot. Zumindest schien es mir so. Die Nacht war hell, aber vielleicht nicht hell genug, um den Ausdruck seiner Augen zu erkennen.« – »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er Sie nicht gesehen hat! Er ist die Treppe hinuntergegangen, ohne zu stürzen!« – »Das will nichts besagen. Er hat ziemlich lange getastet, ehe er das Geländer fand, und als er es ergriffen hatte, brauchte er seine Augen nicht mehr.« Ich wechsle unvermittelt das Thema und frage: »Hat ihn am Fuß der Treppe jemand erwartet?« Das Gesicht der Stewardess verschließt sich, sie senkt die Augen und sagt mit matter Stimme: »Ich habe nicht hingesehen.« – »Warum?« – »Ich konnte nicht.«
    Sobald die Stewardess den Exit verriegelt hat, fühle ich mich doppelt erleichtert: die sibirische Kälte kann mir nicht länger zusetzen, und ich werde Bouchoix nicht mehr sehen. Wenn ein Mensch zum Leichnam geworden ist, verfügen wir über ihn mit höchster Eile. Lebendig mag er uns lieb und teuer gewesen sein. Tot wird er uns hassenswert. Schnell! Schnell! Weg mit ihm! In die Grube mit ihm! Ins Feuer mit ihm! Nur die superleichte Substanz wollen wir uns von ihm bewahren: die Erinnerung; und das ultrahygienische Element: die Idee, daß er gewesen ist. Was Bouchoix betrifft, lasse ich es Pacaud angelegensein, die Erinnerung an sein Wesen zu bewahren und die ihm gebührenden Tränen zu

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