Madrapour - Merle, R: Madrapour
vergießen! Wenn ich darüber nachdenke, finde ich das nicht richtig: die ganze Menschheit müßte weinen, wenn einer der Ihren stirbt, und sei es ein Bouchoix.
Tastend reicht mir die Stewardess ein Glas Wasser und drückt mir in die andere Hand, die sie mit ihren eiskalten Fingern schließt, ein kleines Dragee.
»Was ist das?«
»Das Oniril.«
»Wo haben Sie es gefunden?«
»In einer Schublade der Pantry, schon beim Abflug.«
»Aber Sie kannten nicht den Verwendungszweck?«
»Nein.«
Ich deute ein Lächeln an.
»Sie hätten sich die Gebrauchsanweisung im Innern der Schachtel ansehen können.«
»Es war keine da.«
Ich zögere den Bruchteil einer Sekunde, dann schlucke ich das kleine Dragee und trinke das Wasser. Zitternd vor Kälte und Schwäche, stelle ich fest, daß die Stewardess nach dem Verriegeln des Exits als erstes daran gedacht hat, mir das Oniril zu holen. Von Zärtlichkeit erneut überwältigt, sehe ich sie an.
In diesem Augenblick hoffe ich, gesund zu werden. Ich denke an eine jetzt wieder mögliche Zukunft mit der Stewardess. Selbst wenn sie nur von kurzer Dauer wäre. Ich kann an nichts anderes denken: und doch wird mir bald darauf in dem niedergedrückten Schweigen des Kreises bewußt, in welchen Abgründen die Gedanken meiner Reisegefährten kreisen, seit Bouchoix von uns gegangen und alle Hoffnung geschwunden ist, in Madrapour anzukommen.
Dabei hatte die näselnde Stimme nicht ausdrücklich befohlen, das Flugzeug nicht zu verlassen. Ungeachtet dessen hat sich niemand, absolut niemand zum Exit begeben. Niemand hat den geringsten Einspruch erhoben. Außer der Stewardess hat niemand eine Frage gestellt. Und diese Frage betraf die Evakuierung eines Kranken, nicht das Aussteigen der Passagiere. Ebensowenig hat der Kreis reagiert, als die Stewardess den Exit wieder verriegelt hat. Der Boden hatte es ihr gar nicht befohlen. Sie hat es getan, und wir haben sie wie selbstverständlichgewähren lassen. Sie hat die schwere Tür unseres fliegenden Kerkers wieder verschlossen, in dem wir jetzt weiterleben werden, nicht von Polizisten bewacht, sondern von 10 000 Metern eisiger Leere zwischen der Erde und uns.
Ich habe den Eindruck, daß die Zeit für nichts und wieder nichts verrinnt. Denn die Chartermaschine bleibt sehr lange auf der Erde. Eine Stunde vielleicht, aber niemand hat eine Uhr. Unser einziges Zeitmaß ist unsere Geduld oder Ungeduld.
Ich weiß nicht, ob dieses Warten durch das Auftanken und die Erneuerung des Wasservorrats für die Bordküche und die Toiletten bedingt ist, aber an unser Ohr dringt kein Geräusch, und wir sehen draußen, wo die Nacht nach dem Ausstieg von Bouchoix noch heller geworden ist, auch keinen Tankwagen. Seit der Verriegelung des Exits haben wir lediglich das Scheppern der einfahrenden Metalltreppe gehört. Sonst keinen Laut. Die Motoren sind immer noch abgestellt, und obwohl das Warten an unseren Nerven zerrt, sagt niemand ein Sterbenswörtchen. Man könnte meinen, wir haben Angst, für jede Äußerung von der näselnden Stimme zur Ordnung gerufen zu werden. Wir wissen nicht, ob der BODEN uns noch irgendwelche Rechte zugesteht.
Stillschweigend zumindest nehmen alle Passagiere diese Willkür hin, auch Blavatski, der so herrschsüchtig ist, auch Caramans, der Gesetzesanbeter, auch Robbie mit seinem Hang zum Anarchismus. Die sibirische Temperatur, die niederschmetternde Wirkung der Stimme, Bouchoix’Abgang, unsere Enttäuschung, das Flugzeug nicht verlassen zu können – alles Schocks, die uns der Kraft beraubt haben, der Würde und auch des Drangs zum Aufbegehren. Nur leises Weinen ist zu hören, von Mrs. Banister, glaube ich. Ihre Träume, die sie um das schöne Zimmer in Madrapour gerankt hat, verflüchtigen sich.
Die Nacht hat sich weiter aufgehellt und im Innern der Maschine fahles Licht ausgebreitet, das eigentlich viel unheimlicher als die Dunkelheit ist. Da wir vom Morgengrauen vermutlich noch weit entfernt sind, kann ich mir dieses Phänomen nur durch den Mond erklären. Vorübergehend wird es so hell, daß man glauben könnte, er werde durch die Wolken dringen. Das gelingt ihm nicht, aber die vordem graue Nacht ist plötzlich weiß.
Da ergreift Madame Murzec eine überraschende Initiative: sie löst ihren Gurt, schnellt auf die Beine und drückt ihr Gesicht gegen ein Kabinenfenster. Dann dreht sie sich zu uns um, und ihre blauen Augen leuchten gleichsam als die hellsten Punkte in der Maschine. Mit sanfter Stimme, aus der gleichwohl eine
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