Madrapour - Merle, R: Madrapour
nichts Drohendes verkündet hat, ist man wie von Angst besessen, seit sie in unseren Ohren dröhnt. Es ist nicht nur die Lautstärke. Es ist auch dieses Näseln und dieser – wie soll ich es sagen? – absolut unbeteiligte, mechanische, unmenschliche Tonfall.
»Achtung!« brüllt die Stimme erneut.
Es folgt eine Pause von mehreren Sekunden, völlig absurd und von sinnloser Grausamkeit: was sollen wir, an unsere Sitze geschnallt, von der Kälte gelähmt, von Entsetzen gepackt, anderes tun als unsere »Achtung« dem leihen, was die Stimme sagen wird?
»Bouchoix Emile!« schreit die näselnde Stimme.
Keine Antwort, und als ob die Stimme dieses Schweigen erwartet hätte, fährt sie in voller Lautstärke und ohne die geringste Verwirrung fort:
»Sie werden auf dem Boden erwartet!«
Niedergedrücktes Schweigen. Der Kreis ist verblüfft, ich spüre die Fragen, die er sich stellt. Ist es möglich, daß der BODEN, der alles sieht, der unsere Worte, vielleicht sogar unsere Gedanken erfaßt, nichts über den Zustand von Bouchoix weiß?
»Bouchoix Emile!« wiederholt die Stimme in der gleichen traumatisierenden Lautstärke, aber ohne jegliche Ungeduld, als ob die Wiederholung zur Routine gehörte.
»Er ist doch tot«, sagt jemand, vielleicht Pacaud, mit schüchterner Stimme.
Schweigen. Die Stimme wird Pacaud nicht antworten.
»Bouchoix Emile!« wiederholt die Stimme jetzt in einer Phonstärke, die uns buchstäblich zermalmt, und setzt mit mechanischer Präzision hinzu: »Sie werden auf dem Boden erwartet!«
In das nachfolgende Schweigen hinein stellt die Stewardess, der ich niemals soviel Mut zugetraut hätte, eine Frage, auf die unglaublicherweise eine Antwort erfolgt. Der Dialog wird also nicht prinzipiell abgelehnt, wie ich glaubte.
Die Stimme der Stewardess hebt sich sanft, leise und klangvoll von den Dezibel ab, die unser Trommelfell mißhandelt haben.
»Wir haben hier einen Kranken, Monsieur Sergius«, sagt sie höflich und bestimmt. »Könnte er nicht ebenfalls evakuiert werden?«
Ich bin gerührt und nehme der Stewardess gleichzeitig übel, daß sie meine Trennung von sich in Erwägung zieht, selbst um den Preis meiner Rettung.
Ihrer Frage folgt ein langes Schweigen. Und gerade als ich schon denke, daß man sie ignorieren wird, antwortet die näselndeStimme. Sie ist beträchtlich leiser geworden, so als handelte es sich um ein Selbstgespräch, und vor allem ist der Ton nicht mehr derselbe. Er ist nicht mehr unbeteiligt: er ist unzufrieden. Er verrät gleichsam die Verärgerung eines Bürokraten, den man auf eine Nachlässigkeit in seinem Dienstbereich aufmerksam gemacht hat.
»Monsieur Sergius dürfte nicht krank sein«, sagt die näselnde Stimme.
Diese Bemerkung verblüfft mich außerordentlich. Wie soll ich verstehen, daß die Krankheit, an der ich leide, das Ergebnis eines »Irrtums« sein könnte?
»Mademoiselle«, fährt die näselnde Stimme noch leiser fort, »Sie werden Monsieur Sergius zwei Dragees Oniril geben, eins am Morgen, eins am Abend.«
Das ist mehr ein Befehl als eine Verordnung. Und der Kreis müßte darüber verzweifelt sein, wenn er fähig wäre nachzudenken: für die Behandlung ist keine zeitliche Grenze festgesetzt.
»Ja, Monsieur«, sagt die Stewardess.
Ich habe noch nie von einem Medikament gehört, das die Bezeichnung Oniril trägt, aber offensichtlich weiß die Stewardess, wo es zu finden ist.
Als ob die Frage damit geklärt, der Einwurf erledigt wäre und nun alles seinen gewohnten Gang nehmen müßte, fügt die näselnde Stimme hinzu, wieder in ohrenbetäubender Lautstärke und mit der anfänglichen unbeteiligten, mechanischen Diktion: »Bouchoix Emile! Sie werden auf dem Boden erwartet!«
Liegt es daran, daß ich völlig durchgefroren bin von dem Wind, der in die Chartermaschine eindringt, und sprachlos darüber, daß meine tödliche Schwäche vielleicht nur ein »Irrtum« ist? Liegt es an der Lähmung meines Geistes infolge der unerträglichen Phonstärke der näselnden Stimme? Jedenfalls traue ich meinen Augen nicht, als ich sehe, wie sich Bouchoix’ Körper bewegt und seine abgezehrten Hände die Decke zurückwerfen.
»Emile!« ruft Pacaud. Und eine Frau, ich glaube, es ist Mrs. Banister, stößt einen gellenden Schrei aus. Ich bin also nicht der einzige in der Chartermaschine, der wahrnimmt, daß Bouchoix sich langsam in seinem Sessel aufrichtet.
“My God!”
sagt Blavatski vorläufig nur. (Ihn erkenne ich an der Stimme.)
»Emile!« schreit Pacaud mit einer
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