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Madrapour - Merle, R: Madrapour

Madrapour - Merle, R: Madrapour

Titel: Madrapour - Merle, R: Madrapour Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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geringsten. Ich habe niemals gearbeitet. Weder auf dem Lyzeum noch zu Hause. Ich bin der Typ des Parasiten. Ichlebe auf Papas Kosten.« Sie fügt nach kurzer Überlegung hinzu: »Allerdings ist Papa selber ein Parasit. Er ist Generaldirektor, so wie Sie. Übrigens haben Sie viel Ähnlichkeit mit ihm, Monsieur Pacaud. Derselbe Kopf, dieselben großen Augen. Als ich Sie sah, bin ich zusammengezuckt.«
    Pacauds Schädel läuft erneut rot an, und er sagt mit einer Erregung, die er vergeblich unter einem feierlichen Ton zu verbergen sucht: »Glauben Sie mir, daß ich sehr glücklich gewesen wäre, eine Tochter wie Sie zu haben.« Und nach kurzem Zögern fügt er schroff und leiser hinzu: »Ich habe keine Kinder.«
    Michou lächelt ihm sehr nett zu, und wir alle begreifen, daß Pacaud soeben eine Tochter gefunden hat, zumindest für die Dauer der Reise. Irgendwie bin ich froh darüber, denn Pacaud ist mir trotz einiger typisch französischen Fehler, mit denen er behaftet zu sein scheint, sympathisch. Madame Edmonde dagegen wirft Pacaud, der es geflissentlich vermeidet, sie anzusehen, einen höhnischen Blick zu. Und Madame Murzec verhärtet sich.
    Noch bevor sie den Mund aufmacht, weiß ich, daß sie zum Angriff übergehen wird. Sie beginnt mit sanfter Stimme, der jegliche Schärfe fremd zu sein scheint.
    »Glauben Sie nicht, Mademoiselle, daß Sie Ihre Faulheit etwas übertreiben?«
    »Nicht im geringsten. Zu Hause hab ich nicht mal mein Bett gemacht. Ich konnte nicht. Ich lag drauf.«
    »Aber doch nicht die ganze Zeit«, sagt Madame Murzec mit derselben gefährlichen Sanftmut und als wollte sie mit ihren Antennen vorsichtig den Punkt aufspüren, wo sie zuschlagen kann.
    »Seit Mikes Abreise nach Madrapour, ja. Ich verbrachte meine Tage mit Kriminalromanen, ich lag dazu auf dem Bett und rauchte Zigaretten.«
    »Aber sehen Sie, Kind«, entgegnet die Murzec in einem gütigen Ton, der ihre Kritik erheblich mildert, »ein solcher Müßiggang ist doch unentschuldbar.«
    »Ich war nicht müßig. Ich wartete.«
    »Worauf warteten Sie?«
    »Ich wartete auf Mike. Als Mike mich vor sechs Monaten verließ, ist er in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, und von dort hat er mir geschrieben, daß er für eine Gesellschaft, die Gold sucht, nach Madrapour geht.«
    »Gold in Madrapour?« fragt Blavatski erstaunt. »Wußten Sie das, Caramans?«
    »Ich habe nie davon gehört.«
    Sie sehen einander an, dann Michou, und als sie feststellen, daß ihr kurzer Wortwechsel das Mädchen in ziemliche Verwirrung gestürzt hat, schweigen sie wie auf Verabredung.
    Die unerbittlichen blauen Augen der Murzec beginnen zu funkeln. In honigsüßem Ton sagt sie: »Hat Mike …« Sie unterbricht sich und fragt mit tückischem Wohlwollen: »Ich nehme an, daß Mike Ihr Verlobter ist?«
    »In gewissem Sinne, ja«, sagt Michou.
    »Hat Mike Ihnen aus Madrapour geschrieben?« fährt die Murzec fort, und ein sanftes Lächeln entblößt ihre nikotingebräunten Zähne.
    »Nein«, sagt Michou, plötzlich ängstlich geworden, als ahnte sie den Hieb, den die Murzec gegen sie im Schilde führt. »Mike schreibt sehr selten«, fügt sie schuldbewußt hinzu.
    Die Murzec fährt sich mit der Zunge über die Lippen.
    »Mike hat Ihnen also nicht geschrieben, daß Sie zu ihm nach Madrapour kommen sollen?«
    »Nein.«
    Die Murzec richtet sich auf, ihre Augen funkeln, und sie stößt ihren gelben Kopf in Michous Richtung vor.
    »Wie wollen Sie dann wissen, ob er noch dort ist, wenn Sie ankommen?« fragt sie mit sanfter, pfeifender Stimme.

KAPITEL 3
    Michou öffnet den Mund, aber sie kann nicht sprechen, ihre Mundwinkel sinken herab, ihr Gesicht zittert, als hätte man sie geohrfeigt.
    Was folgt, zerreißt uns das Herz: Michou sieht Madame Murzec flehentlich an, als ob sie allein wieder in Ordnung bringen könnte, was sie so gründlich zerstört hat. Aber die Murzec bleibt hart. Sie schweigt, schlägt die Augen nieder und fährt lächelnd mit der Hand über ihren Rock, wie um ihn zu glätten. Durch diese Geste wird sie uns, ich weiß nicht warum, endgültig verhaßt.
    In der frostigen Atmosphäre, die sich ausgebreitet hat, steht Madame Edmonde auf, und noch bevor sie den ersten Schritt tut, wissen wir alle, daß sie zur Toilette gehen wird. Das ist einer der Nachteile unserer Sitzordnung: niemand kann sich erleichtern gehen, ohne daß alle anderen es erfahren.
    Madame Edmonde hat nur fünf oder sechs Schritte zu machen bis zum Vorhang der Touristenklasse. Dabei wiegt sie sich

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