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Madrapour - Merle, R: Madrapour

Madrapour - Merle, R: Madrapour

Titel: Madrapour - Merle, R: Madrapour Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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– der Kategorie der reichen Touristen anzugehören.
    Ich hatte es nicht sofort gemerkt, weil mich der Wortwechsel zwischen Blavatski und Caramans in Anspruch genommen hatte, aber auch der linke Halbkreis ist von Spannungen erfaßt, die zwar anderer Art, indes nicht minder stark sind als im rechten Halbkreis.
    In der Tat kann ich beobachten, wie die Leidenschaften hinund her wechseln. Mrs. Banister, diejenige unserer beiden
viudas
, die nicht auf die Vergnügungen dieser Welt verzichtet hat, fühlt sich zu dem schönen Manzoni hingezogen, von dem sie leider durch Robbie getrennt wird. Dieser teilt, wie ich schon sagte, die Neigung seiner Nachbarin zur Rechten für seinen Nachbarn zur Linken; obwohl er jedoch taktisch besser plaziert ist, um Manzoni den Hof zu machen, hat er keine nennenswerte Aussicht auf Erfolg. Manzoni unterliegt, zumindest im Augenblick, dem Zauber der unreifen Frucht und konzentriert sich auf die junge Michou. Eine Locke im Gesicht, ist letztere in die Lektüre eines Kriminalromans vertieft und schenkt dem Italiener nicht die geringste Aufmerksamkeit. Michou ist gleichsam der Prellbock, wo dieser ganze Zug von Begierden zum Stehen kommt.
    Weil Manzoni Michou ansieht, sehe ich sie auch an. Das ist besser, als wieder an meine Koffer zu denken oder die Ohren zu spitzen, um die Flugzeugmotoren zu hören.
    Mir gefällt Michou ebenfalls, obwohl sie nichts von dem hat, was mich gewöhnlich an einer Frau reizt: weder Busen noch Hüften noch Po; eine niedrige Stirn und nicht viel dahinter. Trotzdem charmant. Zarte Züge in einem hübschen ovalen Gesicht und trotz ihrer Verschmitztheit naive Augen. Im 18. Jahrhundert wäre das eine rührende Schönheit gewesen, von Volants umrahmt. Im 20. Jahrhundert ersetzen verwaschene Jeans und ein Rollkragenpullover die Falbeln. In solcher Aufmachung könnte man sie für eine Arbeiterin in Papas Fabrik halten – nur daß der proletarische Pullover aus Kaschmirwolle ist. Und wenn ich ihr in den Mund schaute – aber das überlasse ich Manzoni –, bekäme ich ein von einem Luxus-Stomatologen unauffällig korrigiertes Gebiß zu sehen.
    »Verzeihen Sie, Mademoiselle«, sagt Manzoni
sotto voce
in einem leicht lispelnden Französisch, »ich möchte Sie etwas fragen.«
    Michou wendet den Kopf und sieht ihn durch ihre hellbraune Locke hindurch an.
    »Fragen Sie«, sagt sie kurz angebunden.
    »Eben haben Sie den Roman da zu Ende gelesen, und nun fangen Sie schon wieder von vorne an. Sie sind ein sehr geheimnisvolles Mädchen.«
    »Ich bin überhaupt nicht geheimnisvoll«, sagt Michou.»Wenn ich zum Schluß komme, erinnere ich mich nicht mehr an den Anfang.«
    Nachdem sie gesprochen hat, vertieft sie sich wieder in ihre Lektüre. Ich weiß nicht, ob es Absicht war, doch in der gegebenen Situation ist das eine gute Antwort: Manzoni weiß nicht, ob sie es ernst meint oder ob sie sich über ihn lustig macht.
    Er entschließt sich nach kurzem Überlegen zu einem liebenswürdigen kleinen Lachen.
    »Aber ist es nicht ärgerlich, ein so schlechtes Gedächtnis zu haben, wenn man einen Roman liest?«
    »Das stimmt«, sagt Michou gleichmütig und ohne den Kopf zu heben. »Ich habe gar kein Gedächtnis.«
    Erneut kurzes Auflachen Manzonis, immer noch liebenswürdig und neckend.
    »Das spart auch viel«, sagt er. »Schlimmstenfalls könnten Sie immer dasselbe Buch lesen.«
    »So weit geht es nicht«, sagt Michou in einem Tonfall, der es damit bewenden lassen will.
    Die erste Offensive ist zurückgeschlagen. Manzoni schweigt. Aber er wird dennoch nicht aufgeben. Manzoni kennt die Tugenden der Beharrlichkeit, wenn es sich um Verführung handelt.
    Ich sehe ihn mir an. Groß, kräftig, die Maske eines römischen Imperators, samtige Augen und eine Eleganz, die zwischen der Caramans’ und Robbies liegt.
    Caramans ist unsäglich korrekt und badet in den Tönen Grau, Anthrazit und Schwarz. Robbie gestattet sich eine Orgie von Pastellfarben: hellgrüne Hosen und ein azurblaues Hemd; eine gewagte, jedoch etwas kalte Zusammenstellung, die nur durch das orangefarbene Tuch, das um seinen biegsamen Hals geschlungen ist, etwas Wärme bekommt. Der konventionellere Manzoni trägt einen hellen, fast weißen Anzug, dazu ein malvenfarbenes Hemd und eine marineblaue gewirkte Krawatte. Das ist weniger exzentrisch als Robbie, gesuchter als Caramans und, wie mir scheint, auch teurer. Manzoni hat sichtlich viel Geld, und ich bin sicher, daß er keinen einzigen Tag gearbeitet hat, um sich seinen Lebensunterhalt

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