Madrapour - Merle, R: Madrapour
nähere. Sie verschwimmt in der Ferne. Ich laufe wie ein Irrer: sie verflüchtigt sich völlig im Nebel.
Ich erwache mit klopfendem Herzen, in Schweiß gebadet. Die Stewardess ist da, sitzt mir gegenüber. Zumindest ihre körperliche Hülle. Aber sie selbst? Die Frau, die hinter den niedergeschlagenen Augen lebt? Hinter ihrem Lächeln, das so aufrichtig scheint?
Ich schaue weg und bemerke Pacaud. Unter dem Ansturm der Gedanken, die ihn beschäftigen, hat sich sein blanker Schädel gerötet und quellen seine Augen hervor.
»Wie kommt es«, sagt er und sieht Caramans an, »daß es mir in Paris nicht möglich war, eine Karte von Madrapour in die Hand zu bekommen?«
»Sie hätten auch in London kein Glück gehabt«, sagt Caramans mit hochgezogenem Mundwinkel. »Die einzigen Kartenvon diesem Gebiet gibt es in Indien, aber die indische Regierung erkennt die Existenz eines unabhängigen Madrapour nicht an. Der Name erscheint überhaupt nicht auf den Landkarten.«
»Wenn aber der Name auf den Karten nicht verzeichnet ist, wie weiß man dann, daß Madrapour existiert?« fragt Pacaud mit einem breiten Lächeln.
Caramans lächelt ebenfalls, doch mit unnahbarer Miene. »Ich vermute, daß schon einmal jemand dortgewesen ist«, sagt er ironisch.
Schweigen breitet sich aus, und die Ironie scheint für Caramans zum Bumerang zu werden. Offensichtlich hat bisher noch keiner der Anwesenden den Boden von Madrapour betreten, oder wenn jemand dortgewesen ist, macht er zumindest keine Anstalten, es zu sagen. Mein Blick fällt zufällig auf Chrestopoulos, aber dessen Gesicht ist im Schutze seiner unsteten Augen und seines dichten schwarzen Schnurrbarts undurchdringlich.
»Mademoiselle«, fragt Bouchoix, der hagere Teilhaber Pacauds, »hat es schon Flüge nach Madrapour gegeben?«
»Mein Lieber, die Stewardess hat Ihnen darauf längst geantwortet«, sagt Pacaud mit einer Ungeduld, die mich erstaunt. Und in demselben erregten Ton fährt er fort: »Sie hat doch schon gesagt, daß es der erste Flug ist! Nicht wahr, Mademoiselle?«
Die Stewardess nickt. Erneut ist ihr die Farbe aus dem Gesicht gewichen, und ihre Finger verkrampfen sich auf dem Rock. Eine unverständliche Reaktion: ist es denn ihre Schuld, wenn dies der erste Flug ist?
»In Wahrheit wissen wir über Madrapour nur das, was uns die PRM geschrieben hat«, sagt Blavatski, der seiner Sache ausnahmsweise wenig sicher zu sein scheint. »Indien schweigt sich diesbezüglich aus. China auch.«
»Was ist das, PRM?« fragt Mrs. Banister unvermittelt mit lässiger Stimme.
Wir sind ziemlich erstaunt, daß der linke Halbkreis in das Gespräch zwischen Männern aus dem rechten Halbkreis eingreift, aber nachdem wir unser Erstaunen überwunden haben, antwortet Caramans mit einer Höflichkeit, die seine Herablassung kaum durchschimmern läßt:
»Die PRM ist die Provisorische Regierung von Madrapour. Aber sind Sie denn Französin, Madame« fügt er hinzu. »Ich habe Sie für eine Amerikanerin gehalten.«
»Ich bin die Tochter des Herzogs von Boitel«, antwortet Mrs. Banister mit königlicher Schlichtheit.
Abgesehen von der Murzec, die hörbar kichert, verfehlt diese Mitteilung nicht ihren Eindruck auf die Runde. Wir sind letztendlich alle mehr oder minder Snobs; sogar Blavatski, der Mrs. Banister jetzt mit anderen Augen ansieht.
»Und warum ist sie provisorisch?« fährt Mrs. Banister fort, während sie ihre durchdringenden, spöttischen Augen, auf Caramans richtet, nicht ohne eine gewisse Koketterie, der sie durch Hals und Oberkörper Nachdruck verleiht und die Manzoni gilt: sie muß wohl sehr froh gewesen sein, daß sie ihn nebenbei wissen lassen konnte, wer sie ist. Eine edle Herkunft kann alles in allem auf der Waage der Verführung fast genausoviel Gewicht haben wie die taufrischen zwanzig Jahre Michous.
Steif und weltmännisch in einem, verneigt sich Caramans in Richtung Mrs. Banister, als wollte er sich und den Quai d’Orsay der herzoglichen Familie völlig zur Verfügung stellen. Die französischen Diplomaten sind fast durchweg verkappte Royalisten. Und selbst ich, der ich hier großspurig rede, muß gestehen, daß ich auf Adelsregister und Adreßbücher der mondänen Gesellschaft versessen bin, auch wenn es teilweise reine Erfindungen sind.
»Monsieur Blavatski hat absolut recht, Madame«, bemerkt Caramans mit Nachdruck. (Und seine Art, »Madame« zu sagen, verrät, wie leid es ihm tut, sie nicht mit »Herzogin« ansprechen zu können, da Mrs. Banister auf Grund ihres
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