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Madrapour - Merle, R: Madrapour

Madrapour - Merle, R: Madrapour

Titel: Madrapour - Merle, R: Madrapour Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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»falsches Gewicht« ist. Nichtsdestoweniger sieht Mrs. Banister uns der Reihe nach fragend und herausfordernd an, wobei sie uns gleichzeitig spüren läßt, mit wieviel charmanter Herablassung sie uns allen diese Gunstbezeigung erweist.
    Aber nichts geschieht. Alle halten den Mund, um nicht das Feuer zu schüren, in dem Pacaud bereits schmort. Da nähert Manzoni seine Lippen dem Ohr Mrs. Banisters (berührt es sogar, scheint mir, denn ich sehe Mrs. Banister zittern) und flüstert ihr etwas zu.
    »Oh!« sagt Mrs. Banister. »Das ist gemeint?«
    Vor Aufregung nimmt sie wie aus Versehen Manzonis Handgelenk und drückt es kräftig, während sie in gespielter Verwirrung ihre andere Hand mit der vortrefflich nachgeahmten Geste einer kleinen Klosterschülerin vor den Mund hält.
    “What did he say? What did he say?”
2 fragt Mrs. Boyd mit fast komischer Neugierde und beugt sich zu Mrs. Banister herüber .
    Daraufhin beginnen die beiden
viudas
mit der Ungezogenheit selbstsicherer Leute aus hochgestellten Kreisen, hingebungsvoll miteinander zu tuscheln, wobei sie Pacaud wie ein seltenes Museumsstück begutachten.
    Und Manzoni begeht, anstatt den eindeutigen Vorteil gegenüber seiner rechten Nachbarin zu nutzen – denn schließlich läßt sich eine Mrs. Banister nicht jeden Tag herab, einem das Handgelenk mit ihrer herzoglichen Hand zu umspannen –, in seinem Narzißmus einen Fehler, den er in der Folge teuer bezahlen wird. Er wagt eine zweite Attacke auf Michou.
    »Oh, Sie lesen Chevy?« fragt er, sich über sie beugend, und bringt dabei seine Samtaugen, seine Stimme und sein charmantes Lispeln ins Spiel.
    »Ja«, sagt sie und zeigt ihm bereitwillig den Schutzumschlag.
    »Dreizehn Kugeln in der Birne«
, liest Manzoni mit kurzem Auflachen. Und er fügt hinzu: »Dabei reicht eine einzige aus.«
    Aber Michou lächelt nicht einmal. Unsere rührende Schönheit gehört wohl zu jenen Mädchen, die von ihren Gefühlen so in Anspruch genommen sind, daß jegliche Art von Humor ihnen fremd bleibt. Manzoni muß gemerkt haben, daß es ihm nicht gelingen wird, sie zum Lachen zu bringen, denn er fährt ernsthaft fort:
    »Kommt Ihnen Chevy nicht ein bißchen sadistisch vor?«
    »Nein«, sagt Michou und schweigt, denn sie hat nichts anderes zu sagen.
    »Aber die vielen Leichen …«
    »Na und?«
    Was wohl bedeuten soll, daß man von einem Kriminalroman nichts anderes erwarten kann. In diesem Augenblick wendet Mrs. Banister, den eleganten Hals zurückgebogen, Manzoni eine Maske zu, die mehr denn je an das Gesicht eines japanischen Kriegers erinnert, und schleudert ihm einen kurzen, vernichtenden Blick entgegen. Manzoni kann von Glück sagen, daß er im 20. Jahrhundert lebt und nicht vier Jahrhunderte zuvor: ein Dolch hätte seiner Untreue auf der Stelle ein Ende gesetzt.
    »Aber dieses viele Blut, das ist doch ziemlich scheußlich«, sagt Manzoni.
    »Ziemlich«, sagt Michou.
    Aus ihrem Buch fällt ein Foto heraus, Manzoni hebt es ohne Zögern auf, wirft einen kurzen Blick darauf und sagt leise, mit gespielter Großzügigkeit, während er es Michou reicht:
    »Ein schöner Junge.«
    »Das ist Mike«, sagt Michou dankbar.
    »Mike?« fragt Manzoni heuchlerisch, als erwähnte Michou diesen Namen zum ersten Mal.
    »Sie wissen doch«, sagt Michou. Und mit einer knappen Gebärde in Richtung der
viudas
fügt sie hinzu: »Mike, den diese Damen dort meinen ›Verlobten‹ nennen würden.«
    Mrs. Banisters schwarze Augen funkeln und verschwinden sofort hinter dem Spalt ihrer schrägen Lider. Obwohl Michou sich ganz sicher nichts Schlimmes dabei denkt, hat sie soeben Mrs. Banister stillschweigend zur alten Frau gestempelt, noch dazu vor wem!
    Aber Mrs. Banister weiß sich zu beherrschen, und ihre Stimme ist honigsüß, als sie Michou antwortet. Nein, sie wird nicht den Fehler machen, Michou anzugreifen, schon gar nicht mitten in einer Attacke.
    »Ach wissen Sie, Michou, ich bin nicht so altmodisch, wie Sie glauben«, sagt sie im Ton einer zärtlichen älteren Schwester. »Als ich in Ihrem Alter war, hatte ich nicht bloß einen Verlobten, sondern mehrere.« Sie macht eine Pause und fährt dann ungezwungen fort, den Kopf zur Seite geneigt und uns mit blitzenden Augen musternd: »In dem Sinne, wie Sie das verstehen.«
    “My dear!”
sagt Mrs. Boyd mit erhobenen Händen.
    Mrs. Banister heftet ihre japanischen Augen auf uns – den rechten Halbkreis –, aber wir sind nur die Mauer, von der die Kugel zu ihrem eigentlichen Adressaten zurückprallt. Und

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