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Madrapour - Merle, R: Madrapour

Madrapour - Merle, R: Madrapour

Titel: Madrapour - Merle, R: Madrapour Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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die Flugbahn ist wohl berechnet, mit Kühnheit, mit List. Mrs. Banister weiß, daß nichts eine Frau in den Augen der Männer anziehender macht als das Bekenntnis, sie zu lieben.
    Sogar wir, die Mauer, beginnen, Mrs. Banister mit anderen Augen zu sehen.
    Und das ist genau der ungeeignete Augenblick, den die Murzec mit unfehlbarer Sicherheit wählt, um wieder zum Angriff überzugehen.
    »Und Sie brüsten sich noch damit!« sagt sie siegesgewiß, weil sie den verwundbaren Punkt gefunden zu haben glaubt.
    Mrs. Banister, die unser sicher ist – denn sie hat uns eben mit dem Eingeständnis ihrer Schwächen erobert –, geht lässig in Deckung; weit entfernt, sofort zu parieren, leistet sie sich den Luxus, etwas Gelände aufzugeben.
    »Sie werden Anstoß daran nehmen«, sagt sie mit klangvoller Stimme, »aber was ich heute bedaure, sind eher die versäumten Gelegenheiten.«
    Bei diesen Worten sieht sie uns an und biegt ihren Hals mit bewundernswürdiger Melancholie zurück, als ob wir die versäumten Gelegenheiten wären. Beeindruckt von ihrer Haltung einer großen Dame und gleichzeitig verführt durch ihre Koketterie, liegen wir ihr bereits zu Füßen, auch Caramans, der in diesem Augenblick die Erziehung der Ordensbrüder vergißt. Man ist weit, weit von den plumpen Verführungskünsten Madame Edmondes entfernt. In der erotischen Ausstrahlung stellt die große Dame die Dirne völlig in den Schatten.
    »Was für ein Zynismus!« sagt die Murzec entrüstet. Sie hat zwar durchaus recht, aber auf einem Gebiet, das wir alle vergessen möchten.
    »Ich nehme an«, sagt Mrs. Banister, »ich nehme an, daß Sie auch die Keuschheit zu Ihren Verdiensten zählen.«
    Und wir alle spüren in diesem Augenblick, daß Keuschheit keine Eigenschaft ist, die zum guten Ton gehört.
    »Ich habe in der Tat eine Moral«, sagt die Murzec trocken.
    Und man erwartet, man hofft fast, daß Mrs. Banister fragt, wie diese Moral mit der Boshaftigkeit vereinbar sei, welche die Murzec Michou gegenüber an den Tag legte. Aber Mrs. Banister hat nicht die Absicht, unsere Aufmerksamkeit erneut auf ihre rührende Rivalin zu lenken oder gar Manzonis Mitleid wachzurufen. Sie sucht sich ein anderes Gelände, um ihren Angriff vorzutragen.
    »Also kein Flirt?« fragt sie dreist. »Nicht die geringste Schwäche? Keine Liaison? Kein Minütchen des Selbstvergessens mit einer Freundin aus der Kindheit?«
    Mir fällt auf, mit welcher Perfidie – vielleicht ist es auch ihr Scharfblick – Mrs. Banister den sapphischen Verdacht als den naheliegendsten äußert.
    »Solche Hypothesen sehen Ihnen ähnlich«, sagt die Murzec.
    Alles in allem eine ziemlich treffende Antwort, die sie jedoch mit folgendem Nachsatz zunichte macht: »Ich muß Sieenttäuschen: Es gab nichts anderes als einen Gatten, der zu früh verstorben ist.«
    Möglich, daß es nichts anderes gab, aber warum muß ihre Stimme bei dem »zu früh« zittern? Niemand kann sich die Murzec als liebende Frau oder gar als tränenüberströmte Witwe vorstellen.
    Mrs. Banister spürt es, hebt ihre Eichelhäheraugen zum Himmel, läßt ihren Blick mit einem Ausdruck der Komplizenschaft über uns schweifen, stößt einen leisen Seufzer aus und sagt leise, ohne die Murzec anzusehen: »Aufgefressen.«
    “My dear!”
sagt Mrs. Boyd.
    »Was wagen Sie mir zu unterstellen?« ruft die Murzec aufgebracht.
    »Aber absolut nichts«, sagt Mrs. Banister mit nicht zu überbietender Unverschämtheit. Und sie hat die Stirn, nach allen ihren Fragen zu diesem Thema hinzuzufügen: »Ihr Privatleben interessiert mich nicht.«
    »Sie sind bloß unfähig, es zu verstehen«, sagt die Murzec. »Und das überrascht mich nicht, nach allem, was Sie uns über Ihr Privatleben mitgeteilt haben.«
    Ein Punkt für die Murzec. Kein sehr brillanter, kein sehr origineller, aber einer, der von Erfahrung zeugt. Leider verdirbt sich die Murzec wieder alles, indem sie im Tonfall unerträglicher Aufgeblasenheit hinzufügt:
    »Ich bin nämlich ein Mensch, verstehen Sie, ein Mensch mit einem Gewissen, der nach Höherem strebt. Und Sie, Sie sollten sich schämen, sich einfach als sexuelles Objekt zu sehen.«
    Mrs. Banister macht, wirkungsvoll unterstützt von ihren blitzenden Samurai-Augen, einige ironische und charmante Grimassen. Ich glaube, sie wird jetzt zuschlagen. Der Kampf zwischen der Natter und dem Skorpion steht vor seinem Abschluß.
    »Sie haben eine völlig unrealistische Vorstellung von der Rolle des Sex in den menschlichen Beziehungen, Verehrteste«,

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