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Madrapour - Merle, R: Madrapour

Madrapour - Merle, R: Madrapour

Titel: Madrapour - Merle, R: Madrapour Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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werden?«
    »Ich bin es doch nicht, der solche Scherze mit Ihnen treibt, Madame«, sagt der Inder mit der einstudierten verächtlichen Höflichkeit, deren er sich gegenüber Frauen bedient. »Ich begnüge mich, festzustellen: kein Madrapour und kein Hotel, das steht außer Frage.«
    Aber Mrs. Boyd weigert sich, diesen Sachverhalt hinzunehmen. Ihr rundes Leckermaulgesicht wird rot, und sie ruft erbittert aus: »Ich habe doch Fotos von diesem Hotel auf einemProspekt gesehen! So wie ich Sie jetzt sehe! Auch das Restaurant war abgebildet!«
    »Sie haben die Fotos eines Hotels gesehen«, sagt der Inder, ohne sie eines Blickes zu würdigen, »und haben, auf einen Reiseprospekt vertrauend, geglaubt, daß sich dieses Hotel in Madrapour befände.«
    Die Passagiere begehren auf, ungläubige Ausrufe werden laut, die der Inder durch ein Handzeichen einzudämmen versucht.
    Am meisten überrascht mich die Haltung der Stewardess. Sie ist reglos und stumm, doch im Gegensatz zu der Ruhe, die sie eben noch an den Tag gelegt hat, spiegelt sich in ihrem Gesicht äußerste Bestürzung. Eine einfache Verneinung bringt zuwege, was weder die auf uns gerichteten Waffen noch der muskulöse Arm der Inderin, der ihren zarten Hals umklammerte, vermochten. Als der Pirat die geographische Existenz des Staates Madrapour leugnet, also noch bevor er das Vier-Sterne-Hotel zu einem Mythos erklärt, erbleicht sie und verzerrt sich ihr Gesicht. Ich gestehe, daß ich ihre Verwirrung in diesem Augenblick ebensowenig begreife wie ihre Ruhe zuvor. Es ist zwar völlig natürlich, daß sie fest auf die Existenz des Zielortes ihrer Maschine vertraut … Aber daß ein Pirat – der sich auf keinen Fall nach Madrapour begeben will, wenn er das Flugzeug entführt – sie mit seiner Skepsis in Verzweiflung stürzt, ist eine übertriebene oder zumindest mir unverständliche Reaktion.
    Obwohl der Inder die Hand gehoben hat, hält die Unruhe der Passagiere an. Er beeilt sich nicht, sich Gehorsam zu verschaffen. Mit sardonischer Miene beobachtet er das Durcheinander, das er verursacht hat, und genießt ohne Zweifel unsere Heuchelei, denn schon vor seinem Eingreifen waren in unserem Kreis ernsthafte Zweifel über Madrapour aufgetaucht und eingehend erörtert worden.
    »Gentlemen, Gentlemen!« sagt er schließlich und hebt erneut die Hand (er wendet sich nicht an die Frauen, obwohl er ihnen gegenüber sonst eine förmliche Höflichkeit wahrt). Und sobald es wieder ruhig geworden ist, fährt er mit eiskaltem Hohn fort: »Es steht Ihnen durchaus frei, meine Meinung nicht zu teilen. Wenn es Ihnen tröstlich ist, an die Existenz von Madrapour zu glauben, habe ich nichts dagegen.«
    »Mir scheint, daß sich Ihr Standpunkt letzten Endes nicht sehr von dem der indischen Regierung unterscheidet, die die politische Existenz Madrapours nicht anerkennen will«, sagt Caramans.
    Der Inder macht eine anmutige Gebärde der Verneinung.
    »Keineswegs. Ich habe mit der indischen Regierung nichts zu schaffen (kurzes Auflachen). Meine Position ist grundverschieden: ich leugne die
physische
Existenz von Madrapour.«
    »Und dennoch gibt es einen Reisebericht aus dem Jahre 1872, in welchem die Verfasser – vier Brüder namens Abbersmith – behaupten, auf Einladung des Maharadschas in Madrapour gewesen zu sein«, sagt Caramans nicht ohne Heftigkeit.
    Der Inder zuckt die Brauen.
    »Oh, ein Reisebericht!« sagt er spöttisch. »Hundert Jahre alt! Von vier Engländern geschrieben, die sich einen Scherz erlaubt haben! Snobistisch genug, um fiktive Verbindungen zu einem indischen Fürsten zu erfinden! Ich habe diesen Text gelesen, Monsieur Caramans. Er strotzt von Widersprüchen und Unwahrheiten. Das ist reinste Phantasterei!«
    »Die Fachleute sind anderer Meinung«, sagt Caramans pikiert.
    »Was für Fachleute?« fragt der Inder.
    Diesmal heftet er seine Augen so intensiv auf Caramans, daß dieser verstummt. Aber er schweigt mit einer gewissen diplomatischen Würde, als wäre er einem Zwang gewichen. Und sein rechter Mundwinkel zittert, auch wenn er nicht spricht. Ebenso wie Blavatski scheint er, nicht ohne Schrecken, verstanden zu haben, wohin die Dialektik des Inders uns führt.
    »Fachleute!« fährt der Inder fort, und obwohl sein Gesicht beherrscht bleibt, beginnt seine Stimme plötzlich vor Wut zu zittern. »Fachleute, die ein zweifelhaftes Dokument losgelöst von der indischen Realität prüfen! Ja, losgelöst von der indischen Realität: den Legenden! den Lügen! den Wundern! den Seilen,

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