Madrapour - Merle, R: Madrapour
anfängt.
»Ich bitte Sie, Mr. Sergius, fragen Sie sie. Das Jucken wird unerträglich. Ich fühle, daß ich mich nicht zurückhalten kann«, fügt sie hinzu, den Tränen nahe oder einem Nervenzusammenbruch.
Ich werfe einen Blick auf die Inderin und schweige.
»Ich bitte Sie, Mr. Sergius!« drängt Mrs. Boyd. Die Tränen rinnen ihr über die Wangen, und ihre Stimme wird plötzlich unnatürlich schrill. »Ich fühle, daß ich mich nicht zurückhalten kann! Ich werde die Hand heben, um mich an der Nase zu kratzen! Sie wird schießen, und durch Ihre Feigheit werden Sie meinen Tod verschulden!«
»Madame, ich bin nicht feige!« sage ich, entrüstet über diese Anschuldigung, die sie noch dazu in Gegenwart der Stewardess erhebt. »Sie haben kein Recht, so etwas zu sagen! Ihr Egoismus ist nicht zu überbieten! Es gibt noch anderes auf der Welt als Ihre Nase! Was mich betrifft, mir ist mein Leben nicht weniger wert als Ihre Nase!«
»Mr. Sergius, bitte«, sagt sie so flehentlich und so kindlich, daß ich sogleich besänftigt bin.
»Um die Wahrheit zu sagen«, fahre ich ruhiger fort (und dieses Eingeständnis, muß ich zugeben, kostet mich sogar in einersolchen Situation Selbstüberwindung, weil ich auf mein ausgezeichnetes Gedächtnis sehr stolz bin), »ich erinnere mich nicht mehr, wie ›kratzen‹ auf Hindi heißt.«
In diesem Moment richtet die Inderin ihre Waffe auf mich, so langsam und entschlossen, daß ich wirklich glaube, sie wird jetzt schießen.
Ich erstarre förmlich unter ihrem Blick.
Aber anstatt zu schießen, fragt die Inderin ruhig und hoheitsvoll auf Hindi: »Was will diese alte Sau?«
Ich antworte und bin erstaunt, so schnell das mir entfallene Wort wiederzufinden. (Aber ich vermute, daß Freud zu dieser »Gedächtnislücke« sein Wörtchen zu sagen hätte.)
»Sie möchte sich die Nase kratzen.«
»Soll sie es tun!« sagt die Inderin mit abgrundtiefer Verachtung.
Darauf ich: »Mrs. Boyd, die Frau gestattet Ihnen, Ihre Hand zu bewegen.«
»Ach, danke, danke!« sagt Mrs. Boyd, ausschließlich an die Inderin gewandt.
Man könnte meinen, ich hätte in dieser Angelegenheit gar keine Rolle gespielt. Mrs. Boyd sieht mich nicht einmal an. In der Folge wird sie mir wegen meines Eingreifens unverständlicherweise sogar grollen. Ich höre buchstäblich auf, für sie zu existieren. Kein Wort mehr. Kein Blick.
Während nun Mrs. Boyd endlose Dankesbezeigungen herunterhaspelt, die irgendwie schon der Würde entbehren, hebt sie ihre mit Ringen geschmückte kleine weiße Hand und reibt sich lange und genußvoll die Nase.
Ich sehe die Stewardess an. Nicht allein, daß sie ihrem Angreifer keinen Widerstand leistet – die gelöste Haltung ihres Körpers verrät auch keinerlei Anzeichen von Verhärtung oder Furcht. Sie scheint der Inderin voll zu vertrauen, als ob dieser Griff von hinten um den Hals – der doch sehr schnell zu einem Würgegriff werden könnte – lediglich eine scherzhafte Umarmung durch die ältere Schwester wäre. Sie fühlt sich so behaglich wie in ihrem Sessel und ist entsprechend unbekümmert. Und sie schafft es sogar, mir zuzulächeln.
Der Vorhang zur Pantry teilt sich, und der Inder taucht wieder auf, das Gesicht verschlossen, den Revolver in der Hand. Er spricht leise mit seiner Begleiterin. Diese läßt ihre Gefangenefrei. Höflich und stumm bedeutet der Inder der Stewardess, sich wieder zu setzen. Auch er selbst setzt sich wieder an seinen Platz, nachdem er seinen Turban achtlos auf die Erde geworfen hat. Dann stützt er die Hand, die den Revolver hält, auf sein Knie, ohne jemanden aufs Korn zu nehmen.
Seine Assistentin bleibt mit der Waffe im Anschlag stehen, die fanatischen Augen auf uns gerichtet, auf uns alle zugleich, mit beängstigender Allgegenwart des Blicks.
Die Situation scheint in Stillschweigen und Abwarten zu erstarren. Dann sagt der Inder, auf dem aller Blicke ruhen, in seinem vollendeten Englisch:
»Ich bin froh, daß während meiner Abwesenheit alles gut gegangen ist. Da ich die Empfindungen meiner Assistentin kenne, hatte ich gewisse Bedenken, sie mit Ihnen allein zu lassen.«
Alles ist perfekt: das Englisch, der Akzent, der Inhalt seiner Worte, die geistige Haltung. Der Inder erweist sich als vollendete Karikatur jenes etwas abgetakelten Typs: des britischen Gentleman. Gleichzeitig kann man in seinen Imitationen eine parodistische Absicht erkennen.
Er läßt eine vielsagende Stille folgen, um dann fortzufahren:
“I am annoyed.”
Übersetzt heißt das
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