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Madrapour - Merle, R: Madrapour

Madrapour - Merle, R: Madrapour

Titel: Madrapour - Merle, R: Madrapour Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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der Art und Weise, wie Sie es hinnehmen. Ich sehe in Ihnen mehr oder minder fügsame Opfer einer permanenten Irreführung. Sie wissen nicht, wohin Sie sich begeben noch wer das Ziel bestimmt; möglicherweise wissen Sie nicht einmal, wer Sie sind. Ich kann also keiner der Ihren sein. So schnell wie möglich dieses Flugzeug verlassen, den Kreis durchbrechen, in dem Sie sich drehen, mich von dem
Rad
losreißen, an das Sie gekettet sind – das ist für mich zur absoluten Priorität geworden.«
    Er macht eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. Was mich betrifft, so wirkt seine visionäre Beschreibung unseres Zustands wiederum beschämend auf mich.
    Der Inder scheint um einige Zoll zu wachsen, seine dunklen Augen weiten sich, und als er erneut das Wort ergreift, klingt seine Stimme wie eine Totenglocke.
    »Ich muß sagen, daß Sie mich enttäuscht haben. Sie haben sich nicht wie Menschen verhalten, sondern wie eine Herde egoistischer Tiere, von denen jedes seine Haut zu retten versucht. Es ist Ihnen hoffentlich nicht entgangen, daß diese Auslosung, die ich vorschlug, weil sie meinen Zwecken dient, und die Sie mit dem trügerischen Wort Demokratie geschmückt haben, von dem Standpunkt aus, der der Ihrige sein müßte, eine Ungeheuerlichkeit ist. Und keiner hier, absolut keiner hat das Recht, sich in sein gutes Gewissen zu flüchten. Die dagegen gestimmt haben, waren auch nicht frei von persönlichen Hintergedanken, und die am Ende noch aufbegehrten, handelten zu spät.«
    Er fährt mit dumpfer Stimme fort:
    »Die Würfel sind gefallen. Es gibt kein Zurück mehr. Mein Opfer – das auch Ihr Opfer ist – wird vom Los bestimmt.«
    Niemand findet ein Wort der Erwiderung. Allen versagt die Stimme. Ich spüre, wie mein Mund plötzlich trocken wird, so sehr fürchte ich, daß mein Name gezogen wird oder der Name, den ich unterschlagen hatte. Der Inder reicht seiner Assistentin den Turban, und als sie ihn ergriffen hat, fährt er mit der Hand hinein und nimmt ein Los heraus. Mein Herz scheint stillzustehen in der unendlich langen Zeit, die er braucht, das Los auseinanderzufalten.
    Er sieht den Zettel lange ungläubig, dann mit einem Ausdruck des Widerwillens an. Als er sich endlich zu sprechen entschließt, befeuchtet er seine Lippen, schlägt die Augen nieder und sagt mit leiser, belegter Stimme: »Michou.«

KAPITEL 7
    Bestürzung, feiges Aufatmen, Scham, auch Mitleid, jedoch auf dem Hintergrund eines allzu raschen Sichabfindens: die »guten Gefühle« stellen sich ein, vermischt mit anderen.
    Wir sind gewiß alle niedergeschmettert. Aber unser Mitleid ist ein wenig heuchlerisch, weil es unserer Passivität als Alibi dient.
    Arme kleine Michou, sagt man sich, wenn sie jetzt sterben muß, hat sie so wenig gelebt, und das Leben hat ihr nur Trugbilder gebracht: diesen Mike, dieses Madrapour, diese Flugreise … Kurzum, man bedauert sie. Von ganzem Herzen, das jetzt so erleichtert ist.
    Die allgemeine Bestürzung ist um so größer, als man den Inder nicht einmal hassen kann. Nicht er hat die Wahl getroffen. Und da er obendrein seine undurchdringliche Maske abgelegt hat, wird der Inder entgegen aller Erwartung menschlicher und verrät gleichsam ein Widerstreben. Seine ersten Worte gelten Michou, der er in einer Mischung von Bedauern und Vorwurf sagt:
    »Sie hätten nicht so gleichgültig sein dürfen. Wenn Sie, anstatt sich herauszuhalten, gegen die Auslosung gestimmt hätten, wären sieben Stimmen dagegen und sieben dafür gewesen, und in diesem Falle hätte ich selbst entschieden, anstatt auf das Los zurückzugreifen.«
    Mehr sagt er nicht, aber der Sachverhalt ist klar. Auf einen gebieterischen Blick hin übersetze ich. Ich weiß nicht, ob Michou wenigstens jetzt richtig versteht, was ihr Henker sagen will. Sie wirkt so verstört wie ein junger Vogel, der aus dem Nest gefallen ist.
    Eine Locke in der Stirn, die hellbraunen Augen vor Erstaunen geweitet, fragt sie den Inder ungläubig: »Sie werden mich doch nicht umbringen?«
    Ich übersetze. Und ohne ein Wort zu sagen, nickt der Inder mit ernstem Blick und verschlossener Miene.
    »O nein, nein!« sagt Michou wie ein aufbegehrendes Kind, dann verbirgt sie das Gesicht in ihren Händen und fängt an zu schluchzen.
    »Monsieur«, sagt Blavatski, »Sie werden doch nicht mit Kaltblütigkeit …«
    »Schweigen Sie!« unterbricht ihn der Inder wütend und legt seine Waffe auf ihn an. »Ich habe diese leeren Worte satt. Bewahren Sie Ihre Kaltblütigkeit für sich selbst auf. Sie

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