Madrapour - Merle, R: Madrapour
sagt sie. »Ich bin nicht der Meinung, daß wir den Namen des Opfers untereinander auslosen sollten. Wenn wir es nämlich tun, machen wir uns zu Komplizen der Gewalt, die wir erleiden.«
Die Stewardess hat bislang so wenig und so ausweichend gesprochen, daß es mich überrascht, sie eine Haltung einnehmen zu sehen, deren Klarheit und Würde mir höchste Achtung einflößen.
»Sehr gut! Sehr gut!« sagt Caramans. »Das war sehr gut gesprochen, Mademoiselle«, fügt er mit linkischer Galanterie hinzu, die mich stark irritiert, als ob außer mir niemand das Recht hätte, die Stewardess zu bewundern.
»Womöglich glaubt die Stewardess, daß sie auf diese Weise kein Risiko eingeht«, sagt Blavatski, dessen vulgäre Art zum erstenmal abstoßend auf mich wirkt. »Es muß ja schließlich jemand dasein, der uns weiterhin die Mahlzeiten aufträgt …«
»Sie haben kein Recht, derlei zu behaupten!« erwidere ich entrüstet.
»Aber gewiß habe ich das Recht, denn ich nehme es mir«, sagt Blavatski mit verblüffender Dreistigkeit. »Übrigens liegt darin nicht das Problem. Das Problem, das sich uns stellt, ist die Frage einer
demokratischen
Entscheidung. Und bevor wir abstimmen«, sagt er, die Diskussion mit unübertrefflicher Geschicklichkeit auf Nebensächliches lenkend, »möchte ich auf einen Punkt hinweisen. Wir sind vierzehn: Was geschieht, wenn sieben Stimmen für die Auslosung und sieben dagegen abgegeben werden?«
»Ich weiß darauf zu antworten«, sagt der Inder, der der Diskussion sehr aufmerksam folgt. »Bei sieben Stimmen dafür und sieben Gegenstimmen müßte ich annehmen, daß sich keine Mehrheit für die Auslosung gefunden hat, und würde selbst die Entscheidung treffen.«
»Gut, stimmen wir ab«, sagt Blavatski hastig.
Die Abstimmung erfolgt durch Handzeichen. Es gibt sieben Stimmen für die Auslosung, sechs dagegen und eine Enthaltung: Michou verkündet, aus ihren Träumen erwachend, sie sei den Diskussionen nicht gefolgt, habe keine Meinung dazu, und im übrigen sei ihr alles egal. So verhilft Michous Stimmenthaltung den Parteigängern der Auslosung zum Sieg.
Dagegen haben sich ausgesprochen: Caramans natürlich, aber auch die Stewardess, Madame Edmonde, Mrs. Boyd, Mrs. Banister und Madame Murzec, das heißt bis auf Michou alle Frauen. Meiner Ansicht nach ist dieses geschlossene Votum der Frauen kein Zufall und hat auch nichts mit der von Caramans und der Stewardess geäußerten prinzipiellen Haltung zu tun. Die Frauen haben mehr oder weniger bewußt damit gerechnet, daß der Inder aller Wahrscheinlichkeit nach keine ihrer Geschlechtsgenossinnen auswählen würde, falls er selbst entscheiden müßte.
Aus genau entgegengesetzten Gründen entschieden sich die Männer für die Auslosung. Auch ich, der ich eigentlich den Standpunkt der Stewardess teilte, schloß mich ihnen an, weil ich mich im letzten Augenblick der lebhaften Feindseligkeit des Inders mir gegenüber erinnerte: Meine Motivation war also nicht sehr edel. Bekanntlich ist es oft die Angst, die das Votum diktiert, selbst in friedlichen Wahlkämpfen.
Ich bedauerte es, kaum daß ich die Hand gehoben hatte. Ich hatte mich auf die falsche Seite gestellt und mich dadurch erniedrigt.
»Sie werden also losen müssen«, sagt der Inder, ohne seine in diesem Falle durchaus gerechtfertigte Verachtung zu verbergen. »Mr. Sergius, Sie haben gewiß Papier in Ihrem Handgepäck. Würden Sie bitte vierzehn Zettel mit den Namen vorbereiten?«
Ich nicke bejahend. Benebelt im Kopf und mit schwitzenden Händen mache ich mich an die Arbeit. Ich muß die Blätter falten und zerschneiden, wobei mich eine Sorge quält, nämlich das Zittern meiner Hände zu unterdrücken. Das ist nicht leicht. Alle Augen sind auf mich gerichtet. Eine unerträgliche Spannung liegt in der Luft; ein jeder von uns hegt die stumme, recht beschämende Hoffnung, daß der ausgeloste Zettel einen anderen Namen, nicht den eigenen tragen möge.
Ich fühle, wie entwürdigend diese Auslosung ist und wie recht die Stewardess hatte, sich ihr entgegenzustellen. Wir liefern einen von uns dem Henker aus und erkaufen uns mit seinem Blut das Überleben. Neu ist das leider nicht. Die Bestimmung des Opfers ist lediglich die Konsequenz unseres abscheulichen Egoismus. Mir nichts, dir nichts und ohne uns dessen überhaupt bewußt zu werden, sind wir vom Sündenbock zum Sühneopfer übergegangen.
Als ich meine Aufgabe beendet habe, höre ich Robbie mit einer gewissen Feierlichkeit den Inder fragen: »Darf
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