Madru
handelt es sich um einen versteinerten Baum. Wie er dort hingekommen ist? Nun, vielleicht hast du schon davon gehört, daß ani Anfang der Zeiten die Mondfrau ein Ei fand, das vom Himmel gefallen war. Sie brütete es aus, und heraus schlüpften zwei Kinder. Der Knabe erhielt den Namen Bri und das Mädchen den Namen Bru.
Sie wuchsen heran. Bru herrschte in der Anderswelt. Bri wurde der erste Herrscher im Großen Wald.
Bru liebte ihren Bruder mehr als irgendeinen anderen Mann. Bri fand, seine Schwester sei die Schönste unter allen Frauen. Nun gab es damals noch keine Trennungslinie zwischen dem Diesseits und der Anderswelt. In seinem Liebesrausch verbrachte Bri ein ganzes Jahr bei seiner Schwester. Dies war in der Menschenwelt eine Zeit, in der die Ernten verdarben, die Tiere keine Jungen mehr warfen und die irdischen Frauen keine Kinder mehr zur Welt brachten. Da ließ die Mondfrau, die Mutter der Zwillinge, durch Zauber eine unsichtbare Wand aufwachsen zwischen den beiden Welten und zwang Bri zuvor, in sein Reich zurückzukehren. Er mußte nun ständig in der Menschenwelt bleiben, und auch Bru durfte ihr Reich nicht mehr verlassen. Ehe sich nun die Grenze zwischen den beiden Welten schloß, sandte Bru ihrem Zwillingsbruder noch eine Botschaft. Sie war in die Rinde jenes versteinerten Baumes eingehauen, den damals zehn Riesen aus
der Anderswelt herbeitrugen. Auf der einen Seite des Stammes war zu lesen:
MODRIL DITRIU, MESCH FORAL SURIU.
Auf der anderen Seite stand:
FORAL DITRIU, MESCH MONDRIL SURIU.
Das bedeutet, übersetzt in die Sprache, die wir heute sprechen:
DIE WELT WIRD UNTERGEHEN,
ABER DER WALD BLEIBT BESTEHEN.
Und:
DER WALD WIRD UNTERGEHEN,
ABER DIE WELT BLEIBT BESTEHEN.
Bri, so erzählt man, ließ darauf alle Weisen des Großen Waldes zusammenrufen, damit sie ihm die in beiden Sätzen enthaltene Botschaft deuteten. Sie berieten lange und konnten sich nicht einig werden. Der wörtliche Sinn war klar. Aber da sich die beiden Sprüche in ihrer Aussage geradezu widersprachen, kam die Vermutung auf, es müsse noch einen verborgenen Sinn geben.
Beiden Sprüchen gemeinsam war, daß sie offenbar vor einer Katastrophe warnten, vor dem Ende der Welt. Nachdem sie sich lange genug die Köpfe zerbrochen und über das Problem debattiert hatten, meinten die Weisen des Landes, ursprünglich habe Bru vielleicht nur einen Spruch auf den Stamm geschrieben und der andere sei von einem bösen Geist hinzugefügt worden, um die Menschen zu verwirren. Sie stritten sich lange. Die einen behaupteten, allein der erste Spruch enthalte Brus Nachricht, während die anderen ebenso überzeugende Argumente dafür vorbrachten, daß der zweite Spruch der rechte sein müsse.
Jene, die den ersten Spruch für echt hielten, nämlich: die Welt werde untergehen, aber der Wald bleibe bestehen, gingen den ›Weg des Waldes‹. Nur, wenn man auf die Stimme der Bäume höre, wenn man den Großen Wald schütze, in enger Gemeinschaft mit ihm lebe, so erklärten sie, sei die Welt letztlich zu retten.
›Ganz falsch!‹ riefen die anderen, die den ›Weg der Anderswelt‹ einschlugen, der auch der ›Weg des Allwiss( genannt wird. Der Wald werde zerstört werden und mit ihm die ganze Menschenwelt. Komme es aber dahin, werde sich die Menschheit nur retten können, indem sie sich in die Anderswelt flüchte. Deswegen gelte es, sich mit deren Geschöpfen vertraut zu machen, ihre Sprache zu erlernen und nach den Verbindungswegen zu forschen, die vielleicht immer noch zwischen ihr und der Menschenwelt bestehen.«
Madru hatte Ase mit wachsender Verwunderung zugehört, nun aber unterbrach er ihn. »Aber warum heißt dieser Weg der ›Weg des Allwiss‹?« fragte er.
»Darauf wollte ich noch kommen«, sagte Ase, »damals, als soviel über die Inschriften gerätselt und nachgedacht wurde, gab es einen Druiden, der behauptete, er sei dort, wo der Wald am tiefsten ist, dem Zwerg Allwiss begegnet, einem Geschöpf aus der Anderswelt also, das doch noch von drüben zu uns durchgedrungen sei … auf welchem Weg auch immer … und dieser Zwerg habe ihm anvertraut, das Schicksal der Menschheit werde so verlaufen, wie es noch heute die Druiden lehren und wie es jene glauben, die sich heute für den Weg der Anderswelt entscheiden.«
»Und wer hat recht?« fragte Madru wieder dazwischen.
»Nun«, meinte Ase, »ich bin als einer, der den ›Weg des Waldes‹ geht, natürlich in diesem Punkt voreingenommen. Aber da du mich danach gefragt hast, will ich dir
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